in: ak – analyse & kritik, Hamburg, Nr. 588, 18.02.2011, S. 25.
[Initiates file downloaddownload Artikel als pdf]

Krise entlang der Leitplanken
Ein Roadmovie präsentiert Reaktionen auf die Veränderungen gegenwärtiger Arbeitsverhältnisse

Eine gelbe Telefonzelle steht an einer Straßenecke, mitten auf einem städtischen Bürgersteig. Sie ist vor einer hässlichen Nachkriegsbaufassade platziert und wirkt wie stehengelassen. Aus einer anderen Zeit. Einige Sequenzen später beschreibt eine Wäscherei-Arbeiterin die 80er Jahre als komfortabel. Sie redet, wie alle Protagonistinnen und Protagonisten des Films von Bettina Hohorst und Jörg Nowak, über ihren Arbeitsplatz, die Situation auf dem Arbeitsmarkt und deren Einflüsse auf die gesamte Lebenssituation. Dass die Interviewten, in der Selbstbeschreibung einer Altenpflegerin alles „bloß kleene Lichta“, auch die ProtagonistInnen der Geschichte sind, behauptet der Film nicht. Sie werden als Ausgelieferte präsentiert. Während aus den Reihen der postoperaistischen Theorie gegenwärtig versucht wird, die Krise als Ergebnis sozialer Kämpfe zu deuten, in denen die unteren sozialen Klassen immer auch treibende Kräfte sind, ist die Krise im Film eher etwas, das den Leuten widerfährt. Das Kämpferische, das ein Großteil der Interviewten dennoch zum Ausdruck bringt, ist Reaktion. Die vielen kleinen Proteste und kollektiven Aufmuckereien werden als Abwehrkämpfe beschrieben. Aber immerhin gibt es sie. Sollte das also ein repräsentativer Ausschnitt sein, was hier an Krisenbetroffenheit dargestellt wird, es bestünde trotzdem Hoffnung für emanzipatorische Veränderung. Klar wird jedenfalls: Die Krise sitzt tief und ist alles andere als ausgestanden.

Den Stellenwert der Ausschnitte zu ermessen aber wird den Zuschauenden überlassen. Die Betrachtenden werden mit dem Auto durch Deutschland gefahren, die Kamera wird aus dem Fenster gehalten, mal vorne, mal an der Seite. In den Städten, kleinen wie Alzenau und Glückstadt und großen wie Frankfurt a.M. und Stuttgart, steht sie auch mal still. Und zeigt ein Schaufenster, etwa mit Berufsbekleidung. Gesichter zeigt sie nicht. Nach kurzen Einleitungen aus dem Off sind die Stimmen von Personen zu vernehmen, die per Einblendung bloß mit Berufsbezeichnung („Busfahrer“, „Informatiker“) oder Funktion („Betriebsrätin“) vorgestellt werden. Gesichts- und namenlos, bestimmen die Stimmen aber ihre Erzählung selbst. Es gibt kaum autoritative Rahmung, bis auf die wenigen Worte zur jeweiligen Lage vor Ort beim Abbiegen von der Autobahn. Eine Krise zu dokumentieren, läuft immer Gefahr, die ihr Ausgesetzten als Opfer auszustellen, sie im Bild erst recht als solche festzuschreiben. Spätestens seitdem Fotografinnen und Fotografen wie Walker Evans in den 1930er Jahren im staatlichen Auftrag die Krise im US-amerikanischen Süden dokumentiert und sich selbst mit den Gesichtern der Armen zu KünstlerInnen gemacht haben, hat sich das Bild von der Krise als mehrfach heikel erwiesen. Der Film von Hohorst und Nowak zieht hier insofern durchdachte eine Konsequenz. Er erspart den ZuschauerInnen damit auch die Ästhetik der talking heads, die Dokumentarfilme so ermüdend macht. Stattdessen schrabbt man an den Leitplanken der Republik entlang, döst vor sich hin angesichts der verlorenen „Analysefähigkeit“, die ein „Doktorand der Philosophie“ für das Wesen der Krise hält und ist wieder voll da, als der danach befragte Busfahrer die Wirtschafts- und Finanzkrise erklärt. So wie es jede/n treffen kann, sagt der Film wohl auch, kann jede/r es treffend analysieren.

Mit dem Roadmovie ist vielleicht nicht die definitive, aber doch eine so ansehnliche wie konsistente Antwort auf die Frage nach der Visualisierbarkeit der Krise gegeben. Während das (quantitative wie qualitative) Verhältnis jener Unzufriedenen und Wütenden, denen sich der Film widmet, zu den Einverstandenen und Verantwortlichen konzeptionell offen aber erklärungsbedürftig bleibt, wird die innere Verfasstheit jener Gruppe schön durchgespielt. Vage wie die Wirklichkeit schwanken hier Frust und Solidarität durch die Straßenlandschaften ebenso wie Geschichtsbewusstsein, Nostalgie und die antikapitalistisch lesbare Klarsicht der arbeitslosen Altenpflegerin vom Beginn des Films, es sei halt „alles falsch organisiert.“

Jens Kastner

„Der Gewinn der Krise“, Jörg Nowak, D 2010, 45 min., Kontakt: jörg.nowak [ät] gmx [punkt] de