in: graswurzelrevolution, Nr. 248, Münster, April 2000, S. 8.

Pflichterfüller oder Antisemit?
Der Film “Ein Spezialist” wirft alte Fragen über Nazis neu auf

Bernhard Schlink läßt in seinem Roman “Der Vorleser” einen Juraprofessor über die Nazi-Generation sagen: “Sehen Sie sich die Angeklagten an - Sie werden keinen finden, der wirklich meint, er habe damals morden dürfen”. Auch Adolf Eichmann, der für die Deportation von Jüdinnen und Juden verantwortliche Nazi-Beamte im Reichssicherheitshauptamt, hielt sich im Sinne der Anklage für unschuldig. Angeklagt war er u.a. wegen Mordes.  Zwei aktuelle Ereignisse haben den Fall Eichmann wieder ins Gedächtnis gerufen: Ende Februar sind die Memoiren, die Eichmann während seiner Haft in Israel 1960/61 verfaßte, vom Israelischen Staatsarchiv freigegeben worden. Seit Ende Februar läuft der Prozeß gegen Eichmann, der 1961 in Jerusalem stattfand, als zweistündige Dokumentation in deutschen Kinos. Der nach dem Prozeßbericht von Hannah Arendt inszenierte Film des israelischen Regisseurs Eyal Sivan bestätigt nicht nur deren Einschätzung von der Person Eichmanns. Kein Monster, sondern der in elender Pedanterie befangene Schreibtischtäter ist in jeder Szene sichtbar. Die Doku lädt darüber hinaus auch dazu ein, von der Person auf die Situation zu abstrahieren, und all die ungeklärten Fragen wieder zu thematisieren, die es in Bezug auf die deutsche Vergangenheit gibt.

In dem Prozeß ging es laut Hannah Arendt nicht um all die Fragen, die die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus bis heute prägen - wo liegen die Ursachen für den Holocaust, warum gerade die Deutschen, warum gerade die Juden, u.a. - sondern um die Person Eichmann: “Es geht um seine Taten und nicht um die Leiden der Juden; ihm wird hier der Prozeß gemacht, nicht dem deutschen Volk oder der Menschheit, nicht einmal dem Antisemitismus und dem Rassenhaß” (S.72). Dementsprechend widmet sie ihre Aufmerksamkeit ganz dem Angeklagten. Dennoch wirft der Film immer wieder jene Fragen auf und mahnt die Dringlichkeit ihrer Beantwortung an. Dringlich sind die Fragen unter der Prämisse, daß das Wissen von den Ursachen und Motiven bestimmter Taten diese in Zukunft verhindern kann oder zumindest verhindern helfen kann. Dabei wird vorausgesetzt, daß es prinzipiell möglich ist, daß sich solche Handlungen wiederholen. Waren die Taten des Adolf Eichmann also nur insofern “bestimmte Taten”, als sie die des normalen Bürokraten in modernen Gesellschaften sind, die des Spezialisten eben, der sich die Konsequenzen seiner Handlungen nicht zu vergegenwärtigen braucht, weil sie nicht in seinen institutionellen Zuständigkeitsbereich fallen? Oder vollzog er insofern “bestimmte Taten”, als sie die normalen Handlungen innerhalb eines besonderen Systems waren, oder waren seine Taten selbst von besonderer Grausamkeit (wie die Staatsanwaltschaft zu beweisen versucht hatte)?
Der Soziologe Zygmunt Bauman hat im Einklang mit Hannah Arendt beschrieben, wie moralische Skrupel oder Moral überhaupt, unter dem Einfluß und Eindruck starker Regelwerke verkümmern und letztlich ganz ausgeschaltet werden. Moralisch Handeln können Menschen demnach um so besser, je weniger sie in Regeln eingebunden sind. Eichmann sah sich selbst als Rädchen im Getriebe, ohne Verantwortung und deshalb auch ohne Schuld. Moralische Erwägungen spielten bei seinen Tätigkeiten nie eine Rolle, ob aber eher Karrieregeilheit oder Antisemitismus sein Handeln leiteten, kann heute kaum entschieden werden. Der Historiker Götz Aly hält jedenfalls fest: “Eichmann war nicht `der Architekt des Holocaust´ (eine Figur, die es ohnehin nicht gab), aber er war um praktische, vor allem praktikable Vorschläge zum Deportieren, Erschießen und Vergasen niemals verlegen” (Berliner Zeitung, 06.03.2000). Eichmann hat normal gehandelt , regel- und gesetzestreu, gewissenhaft. Wenn er den Auftrag gehabt hätte, das Briefmarkenwesen zu verwalten, statt die Deportation, hätte er auch das getan, erklärt Regisseur Sivan: “Eichmann war ein Normopath” (taz, 11.11.1999). Jehuda Bauer hingegen, Historiker an der Jerusalemer Holocaust Gedenkstätte Jad Waschem, hält Eichmann und seine Mitarbeiter für “ganz ungewöhnliche Bürokraten” (Der Spiegel, 10/2000) . Handelt es sich also um einen motivlosen Pflichterfüller oder um einen ideologisierten, antisemitischen Funktionär?
Der Film - und Arendts Buch - charakterisieren Eichmann als einen gewissenhaften Bürokraten, der keine Reue zeigt (“Reue ist etwas für kleine Kinder”(!)), aber dennoch nichts verdunkeln oder leugnen will und sich zum “aussagebereitesten Angeklagten aller Zeiten” (Arendt, S.102) mausert. Auf die Frage nach der Verantwortlichkeit für einen von ihm unterschriebenen Deportations-Befehl antwortet er, wie wohl auch jeder heutzutage für Abschiebungen zuständige Beamte antworten würde: “Ich... ich, das ist Bürokratendeutsch und hat mit mir, mit der Person Eichmann nichts zu tun”. Wir kommen als ZuschauerIn nicht nur bei diesem Ausspruch in die Gelegenheit, wegen der Unglaublichkeit des Gesehenen und Gehörten zu schnauben oder kopfzuschütteln. Ungleich heftiger reagierten oft die, die 1961 live dabei saßen, und es fährt einem im Kino schon kalt den Rücken herunter, wenn der vorsitzende Richter dann den Saal zur Ordnung ruft mit dem Hinweis, daß er keine Gefühlsäußerungen dulde. Überhaupt sind es die vermeintlichen Kleinigkeiten wie dieser Richterausspruch, die den Film sehenswert machen, weil sie über die Details das große ganze Ausmaß auf die Leinwand zwingen: Die KZ-Tätowierung auf dem Arm eines Gerichtsdieners, die wie zufällig ins Bild rückt oder das Kippen der Sprache, als die Richter beim Kreuzverhör plötzlich deutsch statt hebräisch zu reden beginnen, um den Angeklagten in “seiner Sprache” befragen zu können, und man hört bei jedem Wort, daß es auch ihre (Mutter-)Sprache war.

Mit den aufgeworfenen Fragen wird der Fall Eichmann ebenso zum Exempel wie mit den filmischen Zwischentönen. War das Böse banal, wie Hannah Arendts These lautet, und lauert deshalb überall dort, wo instrumentelle Vernunft am Werke ist? Oder aber ist das Böse immer besonders und erreichte seine Absolutheit im nationalsozialistischen Deutschland? Allgemeine Tendenz der Moderne versus Zivilisationsbruch: Die verschiedenen Einschätzungen des Nationalsozialismus waren nie akademische Spielereien, sondern bestimmen das Verhältnis zu den Opfern und ganz allgemein zur Bereitschaft, aus dem Geschehenen Konsequenzen zu ziehen. Der Film jedenfalls schreibt keine der verschiedenen Interpretationen vor:
Tjark Kunstreich kommt in seiner Filmbesprechung in der Jungle World (Nr. 47/ 1999) zu dem Schluß, daß Eichmann nicht einfach nur ein Spezialist, sondern der Spezialist gewesen ist. Damit interpretiert er die Dokumentation entgegen der Intention Hannah Arendts und des Regisseurs.

Jens Petz Kastner

“Ein Spezialist. Porträt eines Schreibtischtäters”. Buch/ Regie: Rony Brauman/ Eyal Sivan. F/ D/ Ö/ B/ Israel 1999. 128 Min.