in: Graswurzelrevolution, Nr. 353, Münster, November 2010, S. 2

Tabubrecherei
Ein Sich-Luftmachen durchweht das Land, ein Knotenplatzen allerorten, endlich. Dank Thilo Sarrazin.

Der konservative Medienprofessor Norbert Bolz und die feministische BILD-Reporterin Alice Schwarzer sind sich einig: Thilo Sarrazin hat ein Tabu gebrochen. Das SPD-Mitglied Sarrazin habe mit seinen Thesen zur Migrationspolitik Dinge angesprochen, über die bis dahin nicht geredet wurde, nicht geredet werden durfte. Etwa 62 Prozent der Deutschen sehen das auch so. In einer Umfrage stimmen sie Sarrazins Behauptung zu, die Deutschen würden zu Fremden im eigenen Land und schafften sich auf Dauer gar selbst ab: „Endlich spricht jemand eine offenkundige Wahrheit aus.“
Ein Tabu ist ein gesellschaftliches, meist im Stillen wirksames Regelwerk, das die Thematisierung bestimmter Themen, Inhalte und Probleme verbietet oder auch ohne direkten Zwang verunmöglicht. Über die Probleme der Migrationspolitik, vergangene wie zukünftige, ist trefflich geschwiegen worden. Sonst wäre bereits in den 1980er Jahren womöglich die Idee einer „multikulturellen Gesellschaft“ aufgekommen, über deren Faktizität und/oder Gestaltung man hätte streiten können und dieser Begriff könnte heute etwa 43.000 Google-Einträge in zwanzig Sekunden erzielen. Im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften wurde selbstverständlich auch nicht gesprochen und geschrieben, sonst brächte ein Wort wie Multikulturalismus ja vielleicht 64.000 Einträge (18 Sekunden) in der Suchmaschine. Bei amazon eingegeben, wären dann womöglich 1.446 Buchtitel darunter verzeichnet. Aber darüber fand kein Austausch statt, Kommunikationsloch. Angenommen, es hätte einen moderaten Multikulturalismus unter einem Grünen-Politiker wie Daniel Cohn-Bendit gegeben und einen christlichsozialen, für den Heiner Geißler gestanden hätte. Von linksradikaler Warte aus hätte man beiden schon früh das Exotisieren und den Integrationsimperativ vorhalten und die ganze Sache unter dem Titel „ Die freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland“ angreifen können, schon 1992. Aber es wurde einfach nicht geredet. Außerdem hätte die radikale Linke gemeinsam mit Friedens- und MenschenrechtsaktivistInnen im Mai 1993 anlässlich der Änderung des Asylrechts vor dem Bundestag in Bonn zu Zehntausenden Demonstrieren können. Da es aber auch hier um die Frage ging: Wer kommt rein und wie wird mit denen umgegangen, die bereits drin sind – die Verschärfungen der Asylbewerberleistungsgesetze in den Jahren darauf: kein Thema –, konnte, sollte und durfte das alles nicht stattfinden, war tabuisiert.
Sicher, es geht Bolz und Schwarzer und der FAZ um die Ehrenmorde der türkischen Patriarchen, die Parallelgesellschaften der türkischen und arabischen Communities, um Fragen wie die, ob Kopftücher im öffentlichen Raum nicht mehr nur von Unkraut rupfenden Omas in Vorstadtvorgärten getragen werden sollen. Erinnert man sich an eine Autorin mit türkischem Migrationshintergrund, die diese Themen angesprochen hätte? Nein. Oder findet man etwa etwas, wenn man diese Worte – Ehrenmorde, Parallelgesellschaften, Kopftuchdebatte – fragend ins Internet schleudert? Fehlanzeige. Totgeschwiegen, tabuisiert. Denn auch die Rechte blieb still und kein Verhaltensforscher Eibl-Eiblsfeldt nannte Geißler im SPIEGEL wegen dessen Multikulturvorstellungen einen „Utopisten“, denn das hätte man schon als Rechtsruck der Debatte verstehen können, der das ganze Spektrum dessen, was gesagt und gedacht werden kann, ins rassistische hineinverschiebt. Aber dafür hätte DER SPIEGEL selbst im Jahr zuvor, also 1997, beispielsweise in Ausgabe 16, schon titeln müssen „Ausländer und Deutsche: Gefährlich fremd. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“. Nichts war. Gar nichts. Die Vorstellung, dass Leute, die Jahrzehntelang in einem Land leben, sich zu verhalten haben, wie Gäste, die kurz zum Essen vorbeikommen, eben so, wie es dort Brauch und Sitte ist, hätte einfach auch mal von Politikern wie einem Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzler formuliert werden müssen. Gerhard Schröder wären die prolligen Worte „Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins – raus und zwar schnell“ 1997 glatt zuzutrauen gewesen. Stattdessen: Schweigen. Pure Parolenpause. Günter Beckstein (CSU) hätte dann auch noch zur penibleren Auswahl solcher Gäste aufrufen können, mit einem Plädoyer etwa für mehr „die uns nützen und weniger die uns ausnützen.“ Wäre das im Jahr 2000 geschehen, man hätte sich locker zehn Jahre aufstauende Tabuisierung sparen können, die sich halt irgendwann entladen muss. Tja.
Auch die Frage der Werte als gemeinsame Grundlage gesellschaftlicher Regulierungen hätten ab Mitte des neuen Jahrzehnts in der Politikwissenschaft oder im Feuilleton beispielsweise unter dem Begriff der „Leitkultur“ von Ex-Linken wie Basam Tibi in die Diskussion geworfen und als Ausdruck jenes Rechtsschwenks geführt werden können. Ein Terminus wie „Leitkultur-Debatte“ wäre dann allgemein geläufig (143.000 Einträge bei Google in 23 Sekunden). Aber nein. Und überhaupt, die Begrifflichkeiten. Sie sind immerhin der Boden, auf dem die Gedanken erst kollektiv wachsen können. Migrationshintergrund hätte beispielsweise statt des völkischen Wortes „Abstammung“ von links durchgesetzt werden können, dafür hätten die Rechten mit Integration statt dem nationalsozialistisch diskreditierten „Assimilation“ punkten können. Eine Soziologin wie Birgit Rommelspacher hätte ja auch mal den Vorschlag machen können, wir Mehrheitsdeutschen, auch so ein Wort, machten eine „Dominanzkultur“ aus. Aber nichts da. Das hat es ja alles nicht gegeben in den letzten zwanzig Jahren und auch davor nicht. Auch Tabubrecher und Querdenker, die gegen das „politisch korrekte“ Denken von Gutmenschen gleich Tugendterroristen zu Felde zogen, dabei Bestsellerlistentopplätze und Talkshowstühle rund um die Uhr besetzten und zugleich ihre Meinungsfreiheit und die aller beschnitten sahen von den Gutmenschen gleich Tugendterroristen, das gab es ja alles nicht. Man stelle sich vor.

Jens Ka
stner


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