in: ak – Analyse & Kritik, Nr. 553, Hamburg, 17. September 2010, S. 10.

Bodenreformer des Kulturellen
Zum Tod von Christoph Schlingensief

„Du deutsche Sau, Du!“ ruft eine erregte ältere Dame Christoph Schlingensief zu. Zu sehen ist das auf Youtube, die Szene spielt in Wien im Jahr 2000. Dabei hieß die Aktion „Вitte liebt Österreich“ im Untertitel. Aber die Grauhaarige wird noch rabiater und schimpft: „Du Künstler!“ Der Beleidigte lacht, die Umstehenden auch. Er war sogar „einer der größten Künstler, die je gelebt haben“, präzisiert die Schriftstellerin Elfriede Jelinek am Tag nach dessen Tod. Gerhard Richter, Künstler, sah das anders. Als Schlingensief für den Deutschen Pavillon bei der Venedig Biennale 2011 nominiert wurde, eine der weltweit wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, raunte der Maler: „Ein Skandal! Die nehmen einen Performer, dabei haben wir tausend Künstler.“ Im Januar 2008 hatte Schlingensief von seinem Lungenkrebs erfahren. Und gleich ein Tagebuch begonnen, das im Jahr darauf unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ erschien. Das ist ein sehr persönliches Dokument, beeindruckend und bedrückend. Zur Frage der Künstlerrolle heißt es darin: „Ich will keine abgehobene Künstlerfresse sein, die nur sich selbst aufführt und die Ansage macht: Ich habe euch etwas zu sagen, weil ich die Welt anders sehe als ihr.“
Die eingangs beschriebene Situation ist nur eine Momentaufnahme von der viel diskutierten Aktion „Ausländer raus!“, bei der etwas von dieser Weltsicht vorgeführt worden war. Schlingensief hatte während der Wiener Festwochen einen Container vor der berühmten Wiener Oper aufstellen und die Bevölkerung in Big Brother-Manier per Abstimmung darüber entscheiden lassen, welche der abgelehnten AsylbewerberInnen darin abgeschoben werden sollten. Das war das Jahr, in dem die rechtspopulistische FPÖ unter Jörg Haider in die Regierungskoalition geholt worden war. Er habe die Welt immer als etwas gesehen, heißt es in dem Buch auch, „wo man vor allem Widerstand leisten muss.“ Der Autor Georg Seeßlen spricht in seiner Laudatio auf Schlingensief anlässlich der Käutner-Preisverleihung im März 2010 von dessen Kunst als „Karnevalisierung in ihrer ursprünglichen Form, nämlich als Reflex auf Unterdrückung und Heuchelei […].“

Helmut Kohls Urlaubsdomizil, den Wolfgangsee, von sämtlichen deutschen Arbeitslosen bebaden zu lassen und damit zu fluten („Tötet Helmut Kohl“) oder dem österreichischen Rechtsruck mit Megaphon zu begegnen – wegen des Slogans „Tötet Wolfgang Schüssel“ ermittelte die Staatsanwaltschaft in Graz – waren sicherlich Strategien mit begrenzter Reichweite. Und es waren auch Interventionen mit eingeschränkter Anschlussfähigkeit. Aber es waren Interventionen, die sich um die Definition von Kunst oder Theater oder theatraler Performance einen Dreck scherten und die mit dieser Gleichgültigkeit den eingeschliffenen Sparten gegenüber Erfolg hatten. Ein Erfolg, der einerseits sicherlich nie das Zauberwerk eines Einzelnen ist und auf dem natürlich andererseits auch so eine Biennale-Einladung gründet. Es ist ein Erfolg, der auch Gehör verschafft, der Themen in die Diskussion bringt. Unter anderem darum ging es. Deshalb auch die nette Empörung darüber, dass die politische Klasse sich nicht mehr für das Kulturschaffen interessiere: Über einen Besuch bei Angela Merkel im Frühjahr 2009 meinte Schlingensief: „Das einzige, was sie mich gefragt hat, war: ‚Wollen Sie noch Schnittchen?’“

Die Nachrufe auf den am 21. August 49-jährig verstorbenen Filmemacher, Aktionskünstler, Theater- und Opernregisseur tendierten in ihren Würdigungen deutlich mehr in Richtung von Jelineks Superlativ als zu Richters etwas altbackenem Kunstverständnis. Ein „totaler Künstler, ein Gesamtkunstwerker“ (Süddeutsche Zeitung), den der Wiener Standard einen „genialen Weltumschlinger“ nennt und dem selbst die BILD-Zeitung sachlichen Respekt zollt („einer der bekanntesten Aktionskünstler und Regisseure Deutschlands“). Der „große Künstler“, „uns fehlt er jetzt schon“ (FAZ). Die „Strategie der Verkennung“, die Seeßlen hinsichtlich des Medienechos auf Schlingensiefs Kunst noch diagnostiziert hatte, scheint aufgegeben worden zu sein. Alles sieht danach aus, als wäre ihr die herkömmliche Umarmungsstrategie gefolgt, die eingliedert, was widersteht. In seiner Differenz von der Kulturindustrie erkannt, um einmal wieder Horkheimer/Adorno zu bemühen, gehört er schon dazu, „wie der Bodenreformer zum Kapitalismus.“ Aber was wären wir, einfache Kulturbäuerinnen und -bauern, ohne die Bodenreformer! Immerhin weisen sie noch darauf hin, dass hier etwas ungleich und ungerecht verteilt ist. Was daraus wird, wer dann wem den Boden unter den Füßen wegzieht, ist häufig noch gar nicht ausgemacht, sondern immer eine Frage von Kämpfen. Diese beginnen mit Auslegungen und Interpretationen. Schlingensiefs Spiel mit den kulturindustriellen Formen und Verformungen geben dazu Anlass genug. Er taugt nicht für die glatte Rolle des einstmals Radikalen, des vor allem auch formal durchschlagenden Splatter-Quatsch-Aktivisten, der dann in den Mainstream eingemeindet wird, weil er schließlich Richard Wagner in Bayreuth inszeniert. Auch diese schnurgerade Erzählung durchkreuzt er (und letztlich sicherlich nicht nur er). Die besagte Weltsicht, eine Haltung, lässt sich herausschälen, ohne sie gleich zur Essenz seiner Kunst zu deklarieren. Nicht immer gingen seine wohltuenden Tiraden gegen die „neoliberale Scheiße“ oder auch gegen Antisemitismus („der Möllemann hat uns dreißig Jahre zurückgeworfen“) in der manischen Suche nach Bildern und ihren Gemachtheiten und Möglichkeiten auf, geschweige denn diese in jenen. Bayreuth nennt er, der Joseph Beuys-Fan, im Krebstagebuch übrigens einen „Fascho-Laden“. Den „sozialen Aspekt in meiner Arbeit“, heißt es an anderer Stelle, „hat man mir sowieso immer weggeschrieben, weil man sich in Deutschland nichts mehr traut.“

Schon eine Woche nach der Krebsdiagnose hatte Schlingensief entrüstet in sein Diktaphon gesprochen: „Ich höre die Leute schon reden: Der wilde Schlingensief, der Provokateur, das Enfant terrible … natürlich wahnsinniger Überlebenswille … wahnsinnige Anstrengungen … hat bis zum letzten Atemzug gekämpft […]. Das passt doch nicht. Das ist doch alles nicht zu fassen!“ In seinem letzten Interview, erschienen in der Popzeitschrift SPEX zwei Tage nach seinem Tod, sagt Schlingensief über seine Theaterarbeit: „Ich sage: Wenn einer auf der Bühne ‚Herein’ ruft, dann darf die Tür eben gerade nicht aufgehen. Dann ist es besser, wenn einer tot umfällt.“ Für das ganze kulturelle Feld wäre es in diesem Fall definitiv besser gewesen, niemand hätte „Herein“ gerufen.

Jens Kastner


[In der Printausgabe leicht gekürzt]