in: MALMOE, Wien, Nr. 62, März 2013, S. 24.

pueblo
Probleme einer Übersetzung

Mit einem Schweigemarsch von mehr als 40.000 Aktivist_innen machte die zapatistische Bewegung in verschiedenen Städten im Süden Mexikos am 21. Dezember 2012, dem Tag der Zeitenwende im Maya-Kalender, erneut von sich reden. In der linken Tageszeitung La Jornada (04.01.2013) kommentierte der Anthropologe und Politikwissenschaftler Gilberto López y Rivas, die Aktion sei Ausdruck einer neuen Ära, in der die pueblos durch die autonomen Regierungsstrukturen jenseits der staatlichen Zentralmacht in Würde lebten („... en la que los pueblos viven ...“). Es sind alle drei Bedeutungsebenen des pueblo, die hier mitschwingen und deren politische Dimensionen eine vorschnelle Übersetzung allzu leicht verwischt: Erstens sind es die Dörfer (pueblos), die auf dem von der EZLN (Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung) seit dem bewaffneten Aufstand 1994 kontrollierten Territorien in Würde leben. Mit einer Strukturreform der zapatistischen Bewegung wird dort seit 2003 die von der mexikanischen Bundesregierung nicht zugestandene Selbstverwaltung schlicht eigenmächtig umgesetzt. Zweitens sind auch die als indigen identifizierten, gesamten Bevölkerungsgruppen (pueblos) gemeint, denen es durch die Praxis der Autonomie besser geht, und die im Deutschen oft als ‚Völker’ (pueblos) übersetzt werden. Zwischen diesen Ebenen gibt es noch eine dritte, die eher in den Übertragungen des Englischen ‚people’ geläufig ist, die das Wort ‚pueblo’ aber auch enthält: die Leute. Damit sind in der Regel die ‚einfachen Leute’ gemeint, diejenigen – sozialstrukturell gesehen – ‚von unten’.

Einerseits ist das Volk (the people, el pueblo) zentraler Bezugspunkt jeder legitimen Politik innerhalb des modernen Nationalstaates. Verfassungen haben es als Subjekt, der staatspolitische Alltag muss sich auf das Volk (the people, el pueblo) beziehen und es repräsentieren, durch alle politischen Lager hindurch. (Das immer wieder auch notwendig performative Scheitern dieses Repräsentationsanspruches lässt sich etwa an dem Namen der KPÖ-Zeitung schön studieren, die  offensichtlich nicht ist, was sie vorgibt zu sein: „Volksstimme“). Diese Praktiken und Repräsentationen allerdings unterscheiden sich je nach Region und Tradition auch historisch, so dass der Begriff andererseits durch unterschiedliche Konnotationen geprägt ist. Diese Prägung vollzog sich in Lateinamerika stark über den dritten bzw. mittleren Aspekt, deshalb ist der Bezug auf das pueblo in der dortigen Linken bis heute allgegenwärtig und selbstverständlich: Die meisten Länder Lateinamerikas sind seit der Kolonisierung von einer (mehr oder weniger) extremen und (durchgängig) ethnisch determinierten sozialen Ungleichheit geprägt, die ihren Ausdruck auch in den staatspolitischen Institutionen fand. Sprach man von den ‚einfachen Leuten’, hatte man oft (sozialstrukturell) 98 Prozent der Bevölkerung eines Landes erfasst und damit auch (potenziell politisch) das ‚Volk’ beschrieben. Dass eine soziale Gruppe auch politisch am gleichen Strang zieht, ist allerdings nicht selbstverständlich, sondern bestenfalls Ergebnis oder Effekt von Mobilisierungen. Darauf weist etwa der weit verbreitete und eine  immerwährende Hoffnung formulierende Demo-Spruch „El pueblo unido, jamás será vencido“ („Das vereinigte Volk/ die vereinigte Bevölkerung wird niemals besiegt werden“) hin. Er stammt aus der Zeit der Militärdikaturen in den 1970er Jahren, die tatsächlich vor allem Projekte der reichen Oberschichten waren (dabei allerdings keineswegs ohne Beteiligung ‚einfacher Leute’ funktionierten). Das deutsche Wort ‚Volk’ wird demgegenüber schon lange viel stärker mit dem Subjekt des Nationalstaates verknüpft. Es kann zwar auch als Gegensatz zu den Eliten die ‚einfachen Leute’ bedeuten, ist aber spätestens seit dem Nationalsozialismus von biologistischen, extrem exkludierenden Gemeinschaftsvorstellungen nicht zu trennen. (Dem wurde in der radikalen Linken u.a. mit dem Austausch von Buchstaben, gleichsam Derrida´schen Differenzmarkierungen, in Volxunis und Volxküchen begegnet.) Angesichts von unterschiedlichen Konnotationsgeschichten ist es also auch kein Zufall, dass die Partidos del Pueblo (wie auch die People´s Parties) eher linke Organisationen sind, während die Volksparteien im deutschsprachigen Raum politisch eher rechts stehen.

Die Übersetzung von ‚pueblo’ als ‚Volk’ ist also politisch heikel. Als sprachpolitisch weniger denn feinfühlig muss es deshalb gewertet werden, dass etwa beim Gegengipfel zum Treffen der Staatschefs der EU mit jenen aus Lateinamerika und der Karibik in Wien 2006 ein „Tribunal der Völker“ stattfand. Dabei sollten im Rahmen der Gegenmobilisierung („Enlazando Alternativas“, „Alternativen Verknüpfen“) die Machenschaften transnationaler Konzerne angeklagt werden. Dass das Volk bzw. die Völker als vor allem ausgebeutet und somit auch prinzipiell ‚unschuldig’ beschrieben werden, steht klar in linker, antiimperialistischer Tradition. Die systematische Verstrickung von weiten Teilen der Bevölkerung in rassistische und antisemitische Denkweisen und Praktiken – von denen man gerade in Deutschland und Österreich gehört haben sollte, weshalb sich solch ein Tribunal eigentlich verbietet – wird hier ausgeblendet. Der Reflex auf diese skandalöse Ausblendung war allerdings (analytisch wie politisch) häufig auch nicht unproblematischer: So mancher, den so genannten Antideutschen zuzurechnender Autor wertet schon jeden positiven Bezug aufs Kollektive als „völkisch“ und setzt damit etwa die basisdemokratische Organisierung der Zapatistas mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis gleich.

Es gibt also sowohl ein analytisches als auch ein politisches Problem bei der Übersetzung des Wortes pueblo. Noch komplizierter wird es letztlich mit den ‚pueblos indígenas’. Denn sie sind immer schon eine partikulare Gruppe innerhalb oder jenseits der Vorstellung vom modernen Nationalstaat. Deshalb ist auch der deutsche Ausdruck ‚indigene Völker’ vor dem Hintergrund der stark wirksamen Verknüpfung Volk–Staat–moderne Nation ein Widerspruch in sich. Gerade wegen ihres Querliegens zu dieser Konnotationskette wurden die ‚pueblos indígenas’ auch von der modernisierungsfixierten Linken lange Zeit als eher als rückständig und dementsprechend konservativ betrachtet. Dass sich hingegen die emphatische, positive Konnotierung wie bei Lopez y Rivas auch in linken Kreisen durchsetzen konnte, ist erst seit rund 30 Jahren der Fall und damit ein relativ neues Phänomen. Es hat mit einer gewandelten Anerkennung gegenüber modernisierungskritischen, antistaatlichen Praktiken zu tun wie im Falle der Zapatistas (Subsistenzwirtschaft, nicht-repräsentative Entscheidungsstrukturen etc.), aber auch mit neuen, neostaatlichen politischen Praktiken, die nicht denen des europäischen Nationalstaates entsprechen wie im Falle bolivianischen Bewegung zum Sozialismus (MAS) (plurikulturelle bzw. plurinationale Staatskonzepte). Wie schon beim linken ‚pueblo unido’ oder der ‚Volksstimme’ allerdings, werden die ‚pueblos indígenas’ in der positiven Aufladung vereinheitlicht und – anstatt von spezifischen Bewegungen, Gruppen, Parteien etc. zu sprechen – zu linken Akteuren gemacht. Dass es auch in Chiapas rechte Paramilitärs gibt, die sich aus indigenen Dörfern rekrutieren, ist in der neuen Ära der pueblos nicht vorgesehen.

Jens Kastner

 

Mehr zum Thema soziale Bewegungen in Lateinamerika:

Autonomy.
Online Dictionary Social and Political Key Terms of the Americas: Politics, Inequalities, and North-South Relations, Version 1.0 (2012).
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Delegation und Erbauungswissenschaft
Zur Kritik der zapatismusnahen Forschung zu sozialen Bewegungen

in: Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt, Nr. 121, 31. Jg., Münster 2011 (Verlag Westfälisches Dampfboot),  S. 73-91.
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Magón, Ricardo Flores (1874–1922) and the Magonistas
International Encyclopedia of Revolution and Protest, ed. Immanuel Ness, Blackwell Publishing, 2009, pp. 2161–2163.
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Modifizierte Stärke
Soziale Bewegungen in Lateinamerika im Überblick
in: Grundrisse, Nr. 20, Wien, Winter 2006, S. 12-18.
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Der Kampf um Land und Freiheit geht weiter
Die Schriften des mexikanischen Anarchisten Ricardo Flores Magón erscheinen jetzt auf Deutsch
in: Jungle World, Nr. 38, Berlin, 21. September 2005, S. 23.
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Olaf Kaltmeier, Jens Kastner und Elisabeth Tuider (Hg.): 
Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand. 
Soziale Bewegungen in Lateinamerika Münster 2004 (Verlag Westfälisches Dampfboot) 
[vergriffen]