in: kunstschule.at (Hg.): 365/09. „peep show“, Wien 2010 (Sonderzahl Verlagsgesellschaft), S. 62-67.

ELLI und die Bildungspolitik
Praktisches Wissen, Kreativität und das „lebenslange Lernen“ als neoliberaler Imperativ

Jens Kastner

In Pierre Bourdieus Studie „Der Staatsadel“, in der der Soziologe das französische Bildungssystem untersucht hat, gibt es neben unzähligen anderen Ergebnissen statistischer Erhebungen auch diese Zahl: Nur etwa 13 bis 20 Prozent der Intellektuellen sprechen sich für eine stärkere Berufsorientierung des Schulunterrichts aus, was hingegen 40 Prozent der Unternehmer befürworten. Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), erklärt die „Fachkräftesicherung“ zum zentralen bildungspolitischen Anliegen der ArbeitgeberInnen. Überhaupt, so Hundt in der Sommerausgabe 2009 des Magazins „Arbeitgeber“, sei Bildungspolitik „die eigentliche Sozial- und Standortpolitik“. Die Unternehmen stünden deshalb auch den Hochschulen „als Kooperationspartner zur Stärkung der Praxisbezüge“ zur Verfügung.

Mit welchen Zielvorstellungen staatliche Bildungsinstitutionen ausgestattet sind, das spricht aus Bourdieus Statistik ebenso wie aus Hundts publizistischem Einsatz, ist Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Solche Debatten und Kämpfe werden von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Milieus und Institutionen getragen und forciert. So konnte sich in den letzten Jahren ein Bildungsverständnis etablieren, dass, vertreten von privaten Stiftungen – so genannten think tanks –, Unternehmerverbänden und konservativen PolitikerInnen, nicht nur Berufsqualifikation gegenüber einem umfassenderen Verständnis von Bildung als kreative Aneignung sowie selbstbestimmte Produktion von Wissen präferiert. Mit dem Anwendungs- und Praxisbezug wird darüber hinaus die Ausrichtung von Bildungspolitik an ökonomischen Kriterien betrieben. Berufsorientierung müsse bereits im Schulalltag verankert werden, Bildungsinstitutionen sollen, so der Arbeitgeberpräsident, „ihr Lehrpersonal nach marktorientierten Qualitätskriterien“ einstellen.

Das durchgesetzte Bildungsideal betrifft allerdings nicht nur den Umbau staatlicher Institutionen. Die Privatisierung ist auch im Bildungsbereich im Sinne einer Verlagerung staatlicher, d.h. hier zunächst gesellschaftlich erkämpfter Sicherungssysteme hin zu individueller Verantwortlichkeit zu verstehen. Diese Art Individualismus ist zentraler Bestandteil einer konservativ-neoliberalen Politikkonzeption, die ihre Umsetzung seit Mitte der 1970er Jahre fand: Begonnen mit der Übernahme von Finanz- und Wirtschaftsministerien im Chile der Pinochet-Diktatur durch die Anhänger des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman, den verniedlicht so genannten „Chicago Boys“, über die Durchsetzung der neoliberalen Fraktion innerhalb der britischen Torys und deren Übernahme der Regierungsgeschäfte ab 1979 unter Margaret Thatcher bis hin zur US-Regierung unter Ronald Reagan.
In den 1990er Jahren aber fanden neoliberale Ideen neue Trägerschichten, zur gesellschaftlichen Durchsetzung des radikalen Individualismus in den letzten zehn Jahren haben vor allem auch sozialdemokratische Regierungen und Intellektuelle beigetragen. Bereits im so genannten Schröder-Blair-Papier von 1999 heißt es: „Zugang und Nutzung zu [sic] Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar. Die Regierungen sind deshalb dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der es den einzelnen ermöglicht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen. Dies muß heute für Sozialdemokraten höchste Priorität haben.“ Während SozialdemokratInnen früherer Generationen Bildung vor allem als ein Instrument betrachteten, soziale Ungleichheit abzumildern oder langfristig sogar, durch bildungsbasierten Aufstieg ganzer Milieus, abzuschaffen, wird sie bei Gerhard Schröder und Anthony Blair zum Karrieremittel der Einzelnen. Zwei Jahre später fand die „Förderung lebenslangen Lernens“ im Kommuniqué von Prag (2001) auch Eingang in den Bologna-Prozess, den missratenen aber weiterhin aktuellen Versuch der Vereinheitlichung des europäischen Hochschulwesens.

„Lebenslanges Lernen“ wird dann, in einer „modernen Welt“, für deren Sicherheit schließlich alle verantwortlich sind, auch schnell von der Möglichkeit zur Pflicht. Wer nicht lebenslang lernt, verweigert sich schließlich nicht nur dem wirtschaftlichen, sondern menschlichem Fortschritt überhaupt – so formuliert es zumindest die Bertelsmann-Stiftung: „Europa ist sich einig: Lebenslanges Lernen ist der zentrale Hebel, um die Qualität des Sozial- und Humankapitals nachhaltig zu steigern und damit sowohl wirtschaftlichen Wohlstand als auch menschliches Wohlergehen zu fördern.“ Wenn auch in die Verantwortung der/des Einzelnen gelegt, muss das „lebenslange Lernen“, wenn es an ökonomischer Effektivität ausgerichtet ist, klarerweise überprüfbar sein, und dafür hat die Bertelsmann-Stiftung, eine der wichtigsten neoliberalen think tanks im deutschsprachigen Raum, eine Reihe von Maßstäben entwickelt, zusammengefasst in dem Katalog „European Lifelong Learning Indicators (ELLI)“. Mit den aufgeführten Indikatoren kann nicht nur für verschiedene Orte überprüft werden, wie die „Bürger die Angebote wahr[nehmen]“, sondern wie schon die Universitäten können ganze Regionen einem Ranking hinsichtlich der Frage ausgesetzt werden, ob sie „lebenslanges Lernen“ fördern oder nicht.

Um es zwischendurch einmal festzuhalten: Ein konsensuales Verständnis von Bildung („Europa ist sich einig“) fällt niemals vom Himmel, sondern wird in sozialen Kämpfen, angefangen mit der alltagsweltlichen Implementierung von Worten wie „Humankapital“, durchgesetzt. Bildung im Sinne der neoliberalen „Evangelisten des Marktes“ (Keith Dixon) bemisst sich, wie ELLI zeigt, vor allem an ihrer Nützlichkeit für Investitionsempfehlungen an Unternehmen. Dieser Nutzen wiederum richtet sich aber nicht allein nach dem Berufswissen, dass die Bildungseinrichtungen gemäß Unternehmerposition fortan produzieren sollen. Nützliche Bildung ist vielmehr die, die fachspezifische Ausbildung mit der kollektiven Bereitschaft koppelt, diese nur als Ausgangsposition für permanente, eigenverantwortliche Weiterbildung zu betrachten. Das „lebenslange Lernen“ umfasst beides, die fachidiotische Expertise, antrainiert an ECTS-gepunkteten Hochschulen, und den freien Willen, es bei diesem Wissen nicht zu belassen, sondern das Training schließlich selbst in die Hand zu nehmen und sich permanent und mit ganzem Körpereinsatz, also schöpferisch weiter zu bilden.

Durch die Indienstnahme der schöpferischen Potenziale wird Kreativität dann eine „zentrale postfordistische Subjektivierungsweise“ (Gerald Raunig/Ulf Wuggenig) und der Künstler/die Künstlerin zum Leitbild neuer kapitalistischer Verwertungsmodi. Deshalb hat beispielsweise auch der US-Ökonom Richard Florida seine Empfehlungen an Firmen nicht nur, wie noch die Bertelsmann-Stiftung, an der Wissensproduktion ausgerichtet. Unternehmen sollten sich laut Florida vielmehr dort ansiedeln, wo die Kreativitätswerte – zusammengesetzt aus den „drei T´s“: Toleranz, Talent und Technologie – am höchsten seien. Index und Ranking für Kreativität hat Florida ebenfalls erstellt. Während Florida selbst als Unternehmensberater seine Erkenntnisse gewinnbringend vermarktet, gibt es innerhalb von Sozialwissenschaften und Philosophie ganz ähnliche Einschätzungen hinsichtlich der Kreativität, und zwar von Leuten, die den herrschenden Verhältnissen weniger profitierend als vielmehr kritisch gegenüber stehen. So betont auch der Postoperaist Paolo Virno, Wissen und „kommunikatives Vermögen“ seien „Stützpfeiler der gesellschaftlichen Produktion“ geworden – nur dass Virno deren Reduktion auf „bloße Erwerbsarbeit“ nicht feiert, sondern beklagt.

Wie man es auch bewertet, ein künstlerisches Ethos scheint als Gegenmodell für das Verständnis von Bildung als Inkorporation anwendungsbezogener, verwertbarer Wissenstools, das die Neoliberalen durchgesetzt haben, weder theoretisch noch praktisch zu taugen. Es ergänzt es vielmehr: Die Förderung von „Unternehmergeist“ – laut „Memorandum über lebenslanges Lernen“ der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2000 eine von fünf „Basisqualifikationen“ – findet im Kreativitätsimperativ des kulturellen Feldes einen nützlichen Erfüllungsgehilfen. Die Kreativität der Arbeitenden systematisch in den Produktionsprozess zu integrieren – erstmals massenhaft umgesetzt in den Autofabriken von Toyota in den 1970er Jahren – bedeutet auch, die Arbeit auf das gesamte Leben auszudehnen: Einbringen muss sich der/die Einzelne, dem Künstler/der Künstlerin gleich, als ganze Person.

So treffen die bildungspolitischen Zielvorstellungen von Unternehmerverbänden und wirtschaftsliberalen Politikberatungsclubs nicht nur auf offene Ohren unter ihresgleichen, sondern auf gewissermaßen willige Körper in ganz verschiedenen Milieus: „was Kreatives machen“, wer will das heute nicht?! Das Konzept des „lebenslangen Lernens“ schafft es so auf geradezu wundersame Weise, einerseits an ein bildungsbürgerlich-individualistisches Ideal anzuknüpfen und dieses andererseits mit dem Kreativitätskult des künstlerischen Feldes und dem Privatisierungseifer der Neoliberalen zu verbinden. Die von Unternehmerseite geforderte ökonomische Ausrichtung der Bildungsinstitutionen und die Appelle an die Lebensführung widersprechen sich also nicht: Bildung im Konzept des neoliberalen „lebenslangen Lernens“ zielt auf die ganze Breite des Begriffs und beinhaltet einerseits die reine Ausbildung (zum Lohnerwerbsberuf) und andererseits die ausgedehnte Herstellung (der ganzen Person/Persönlichkeit).

Vollkommen ausgeklammert aus diesem theoretischen Verständnis ebenso wie aus dem sozioökonomischen Programm wird Kollektivität. Es geht bei den Bildungszielen eben nicht mehr um die Angleichung von Zugangsbedingungen zu gesellschaftlichen Positionen und Institutionen oder gar um die gerechtere Verteilung von Ressourcen. Auch wäre statt dem individuellen „Unternehmergeist“ ja auch die EU-Förderung kollektiven „solidarischen Handelns“ denkbar. Aber die neoliberalen Politikmodelle basieren auf einem survival-of-the-fittest-Menschenbild, nachzulesen bei marktradikalen Stichwortgebern wie Friedrich August von Hayek und reproduziert in einfachen Fernsehwerbeslogans wie dem der deutschen Postbank: „Unterm Strich zähl ich!“

Seit der Gründung der Mont Pèlerin Society (1947), einem Netzwerk von Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen, HistorikerInnen und PhilosophInnen, sind an die hundert global vernetzte think tanks, auch „Denkfabriken“ genannt, entstanden und aktiv mit der sozialen Verankerung neoliberaler Ideen beschäftigt. Sie betreiben, wie der Sozialwissenschaftler Bernhard Walpen es genannt hat, ein „hegemoniales Projekt“. Dies besteht, neben Lobbyarbeit und Politikberatung, Arbeit in so genannten Expertenkommissionen und Leitartikeln in Zeitungen wie FAZ und NZZ, eben auch in bildungspolitischen Interventionen. Ihr Politikverständnis ist dabei ein extrem reduziertes: „Hauptzweck der Politik“, so heißt es beispielsweise in einer Aussendung des neoliberalen Hayek Instituts Österreich (2008), sei folgendes: „Sie [die Politik] hat die Voraussetzungen für ein attraktives Wirtschaftsklima und damit für funktionierende Steuereinnahmen zu schaffen. Nur so kann der Staat seine Aufgaben – von der Sicherheits- bis zur Bildungspolitik – erfüllen.“ Dass Politik auch die gemeinsame Regelung gesellschaftlicher Belange, die Ermächtigung der Bevölkerung in demokratischen Repräsentationsprozessen oder gar die ausgleichende Regulierung antagonistischer Interessen sein könnte, weisen die Neoliberalen vehement zurück. Man könnte das rumpfhafte Politikverständnis des Hayek Instituts getrost als Sektenmeinung abtun, wenn die neoliberalen think tanks nicht seit den 1970er Jahren weltweit dermaßen einflussreich geworden wären. Während Richard Florida nur einen Bestseller geschrieben hat und Unternehmen berät, übt die Bertelsmann-Stiftung über das zur Hälfte von ihr mitfinanzierte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) direkten Einfluss auf die deutsche Hochschulrektorenkonferenz und damit auf die Bildungspolitik aus.

Die Macht ist zwar, wie Michel Foucault meinte, überall, weil sie von überall her kommt. Das schließt aber nicht aus, dass es gesellschaftliche Kräfte und AkteurInnen gibt, die an der Verschiebung von Kräfteverhältnissen arbeiten und damit auch Erfolge feiern. Dass unterm Strich nur ich zähle, ist nicht nur ein individualistisches Credo, sondern bedeutet ja auch, dass man überm Strich einiges dafür tun muss – „lebenslang lernen“ zum Beispiel –, um überhaupt etwas zu zählen, d.h. wert zu sein. Eine Denkweise, deren Verbreitung an die gegenwärtige De-Regulierungen nicht nur perfekt angepasst ist, sondern sie geradezu verkörpert. Die Verknüpfung von Denkweisen (mentalité) mit Regierungsformen (gouverner) hatte Foucault „Gouvernementalität“ genannt – einen Begriff, den er übrigens in Auseinandersetzung mit den erstarkenden Marktradikalen entwickelt hatte.

Nun ist schließlich und endlich gegen lebenslanges Lernen grundsätzlich selbstverständlich überhaupt nichts einzuwenden. Es ließe sich ohnehin die Frage stellen, ob es jemals ein menschliches Leben gab, in dem nicht bis zum Schluss auch gelernt wurde. Problematisch ist das zum hegemonialen Konzept individueller Konkurrenz gewordene „lebenslange Lernen“, das gesellschaftliche Ausgleichsregelungen bekämpft und solidarische Beziehungen untergräbt. Die soziale Ungleichheit, deren Reproduktion durch die Bildungsinstitutionen das eigentliche Thema von Studien Bourdieus wie der eingangs zitierten ist, wird dadurch freilich noch verschärft.



Links

Schröder, Gerhard und Tony Blair 1999: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten (London, 8. Juni 1999), http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html

Hundt, Dieter 2009: Bildungspolitik eigentliche Sozial- und Standortpolitik, http://www.bda-online.de/www/arbeitgeber.nsf/id/AA3F63898833A5ACC1257610002FD7F8?open&ccm=200027

Bertelsmann Stiftung: „European Lifelong Learning Indicators (ELLI)“, http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-F07681F4-C5302490/bst/hs.xsl/90232_90237.htm

Hayek Institut Österreich: Mehr Gerechtigkeit und Effizienz bei der Individualbesteuerung zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes, www.hayek-institut.at/img/media/42/142/mediacenter142.doc

Europäische Kommission: Memorandum über lebenslanges Lernen, http://www.bmukk.gv.at/europa/bildung/memorandum.xml


Literatur

Dixon, Keith: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz: UVK 2000.

Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. And how it´s transforming work, leisure, community and every day life, New York: Basic Books 2004.

Raunig, Gerald und Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia + Kant 2007.

Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensform, Wien: Verlag Turia + Kant 2005.

Walpen, Bernhard 2004: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pelerin Society, Hamburg: VSA Verlag 2004.


Dieser Text erschien unter dem Titel „Das neoliberale Bildungsideal“ auch in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 545, Hamburg, 18.12.2009, S. 13.
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