in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 452, Oktober 2020, Libertäre Buchseiten S. 5.

Die Zwischenräume nutzen!
Nachruf auf den Anarchisten und Anthropologen David Graeber (1961–2020)


In seinem Nachruf auf den am 2. September 2020 verstorbenen Anthropologen David Graber erweckt Robert Misik in der ZEIT den Eindruck, Graeber sei eher so zufällig mit dem Anarchismus in Verbindung gebracht worden. „Anderen linken Strömungen oder gar Parteien fühlte er sich nicht richtig zugehörig, so war er vielleicht eher ein Anarchist mangels besserer Alternative.“ Wahrscheinlich war er deshalb Mitglied der anarchistischen Gewerkschaft IWW, weil es ja sonst keine Gewerkschaften gibt. Und vermutlich hat er auch deshalb Texte wie „Fragmente einer anarchistischen Anthropologie“ geschrieben oder auch „Die anarchistische Anthropologie, die beinahe schon existiert“, weil er sich sonst keiner Form von Anthropologie so richtig zugehörig fühlte.
Am Ende seines Beststellers „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ schreibt Graeber: „Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich wert sind“. Da kommt ja eine Grundhaltung zum Ausdruck von jemandem, der sich seit seinem sechzehnten Lebensjahr als Anarchist bezeichnet, die wir bloß mangels besserer Alternative mal anarchistisch nennen können. Aber Vorsicht, Misik warnt: „‘Anarchist‘ nannte er sich – oder wurde er genannt –, aber ob er wirklich einer war, das kann man diskutieren.“ Sicher, das kann man, ebenso wie man diskutieren kann, ob Robert Misik ein Journalist ist oder ob DIE ZEIT eine Wochenzeitung ist. 
Das halten sie nicht aus, die sozialdemokratischen Linken, dass einer „einer der originellsten Kapitalismuskritiker, den die heutige Linke hatte“ (Misik über Graeber) ist und kein Sektierer – und trotzdem Anarchist! Hört das nie auf?

Aber Spaß beiseite. David Graeber war, neben Noam Chomsky, der wohl bekannteste Anarchist der Gegenwart. Mit seinem besagten Buch über Schulden landete er 2011 einen weltweiten Beststeller, der selbst von der konservativen FAZ gefeiert wurde. Auch seine Bücher über die Occupy Wall Street-Bewegung, an der er beteiligt war – angeblich hat er den Slogan „We are the 99 percent“ mit erfunden – wie auch über die Arbeitsverhältnisse der Gegenwart („Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit“, 2018) verkauften sich vergleichsweise gut. Graeber war ein unermüdlicher Aktivist. Er war aber auch ein erfolgreicher Akademiker, der an anerkannten Universitäten in den USA (Yale, 1998-2005) und Großbritannien (Goldsmith‘s College der University of London, 2007-2013, und London School of Economics, seit 2013) unterrichtete. 

Sein Anarchismus speiste sich aus beiden Bereichen, verband Ergebnisse anthropologischer Forschung mit aktivistischen Erfahrungen. Und er ging meist, wie viele Anarchismen, von sehr einfachen Fragen aus: „Warum sollte Demokratie“, heißt es etwa in „Inside Occupy“ (2012), „eigentlich kein Verfahren kollektiver Problemlösung sein?“ Die Antwort auf die Frage nach den gesellschaftlichen Arrangements, die am besten die Beteiligung aller gewährleisten würde, war für ihn eindeutig: „Anarchie“.

Graebers Anarchismus bringt allerdings auch viele Probleme mit sich, die er mit vielen anarchistischen Ansätzen der Gegenwart teilt. Auch deshalb lohnt es sich, so darauf herumzureiten, dass Graeber Anarchist war. Drei Beispiele:
Seine These, dass das Geld nicht aus dem einfachen Tauschhandel entstanden ist, besticht absolut. Die von ÖkonomInnen gerne kolportierte Geschichte, die Menschen hätten erst zwanzig Hühner gegen eine Kuh getauscht und dann, weil Hühner und Kühe zu schwer wurden und schlecht zu lagern waren, das Geld erfunden, ist laut Graeber nirgendwo empirisch verbürgt. Es war viel komplizierter, Graeber spricht von einer „humanen Ökonomie“ jenseits von Markplätzen und instrumenteller Vernunft. Dass Gegenstände erst als Geld verwendet werden, „wenn Regierungen und Märkte ins Spiel kommen“, scheint zudem eine anarchistische Ansicht zu bestätigen. Aber stimmt es auch? Die Frage ist, ob staatliche Regulierungen nicht auch Teil einer komplexen Gabenökonomie sein können (und sogar sollten), oder ob sie ihr tatsächlich nur als äußere Gewalt gegenüberstehen.
Mit der ausschließenden Gegenüberstellung von Staat und Alltagspraxis ist eine weitere fragliche These verbunden. Graebers Anarchismus ging so weit, auch einfache Handlungen, wie etwa Fremden spontan zu helfen, miteinzubeziehen. Wir seien, schloß er, auch gegenwärtig schon „von anarchistischen Sozialverhältnissen“ umgeben. Aber ist das sinnvoll, den Begriff Anarchismus dermaßen weit zu fassen? Gehört nicht viel mehr dazu, als hin und wieder freundlich zu sein? Herrschaftslosigkeit braucht doch auch Organisierung gegen die Reproduktion gesellschaftlicher Klassen, braucht antisexistische Haltungen und braucht gelebten und institutionalisierten Antirassismus, mindestens. Und umgekehrt ist auch Herrschaft mehr als Staat: Dass es keinen Staat gibt, bedeutet ja leider noch lange nicht die Abwesenheit von Herrschaft. 
Die Gleichsetzung von Herrschaft und Staat führt drittens dazu, dass Graeber, wie manch andere Anthropolog*innen auch, hin und wieder dazu tendiert, nicht-staatlich organisierte Gesellschaften zu romantisieren. Ob die unanfechtbaren Entscheidungen von Dorfältesten oder anderen traditionellen, meist männlich besetzten Gremien aber wirklich den geregelten Verfahren eines modernen Nationalstaates immer vorzuziehen sind, sollte auch aus emanzipatorischer Perspektive infrage gestellt werden.

So hat Graeber, als Person ein Knotenpunkt vieler Debatten und Aktionen, letztlich nicht nur anarchistische Themen wieder stärker in die öffentliche Diskussion gebracht. Das hat er getan wie kaum ein zweiter in den letzten Jahrzehnten. Er hat auch dazu angeregt, die Schwachstellen anarchistischer Theorie erneut zu diskutieren. Dabei war Graeber durchaus undogmatisch: Er bewunderte den Zapatischen Aufstand im Süden Mexikos und unterstützte zugleich die Labour Party unter dem linken Ex-Gewerkschaftsfunktionär Jeremy Corbyn. Auch damit allerdings steht er nicht unbedingt allein im Lager der staatskritischen Linken: Schon Peter Kropotkin (1842–1921), der wohl einflussreichste Theoretiker des kommunistischen Anarchismus, zeigte sich trotz Staatsfeindschaft begeistert über jede Stimme, die für sozialistische Arbeiterparteien gewonnen werden konnte. Anarchismus schließt so gesehen politisch-strategisches Denken nicht unbedingt aus. Auch Graeber war kein vulgäranarchistischer Alles-oder-Nichts-Revoluzzer. „Für den Augenblick“, schreibt Graeber in Auseinandersetzung mit dem Zapatismus, „heißt Demokratie also die Rückkehr in die Räume ihrer Ursprünge: die Räume dazwischen“.

Graeber, der aus einer New Yorker Arbeiterfamilie stammte, starb mit nur 59 Jahren. Sein Tod ist traurig und ein herber Schlag für die linken sozialen Bewegungen und für die öffentliche Sichtbarkeit emanzipatorischer Ansätze und Ideen. Graeber war mit der Künstlerin Nika Dubrovsky verheiratet, die auch im aktuellen Buch mitredet: Gerade ist im Diaphanes Verlag ein Gesprächsband von Graeber erschienen. Darin geht es darum, „dem politischen Denken jenseits der allgemeinen Alternativlosigkeiten und politischen Schemata neue Impulse zu verschaffen“. Der Band heißt – sicherlich „mangels besserer Alternative“– „Anarchie – oder was?“ (2020).

Jens Kastner

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