in: analyse & kritik, Hamburg, Nr. 666, 15.12.2020, S. 33.

Theoretikerin des Widerstands
Der dekolonialistische Feminismus wurde maßgeblich durch die argentinische Philosophin und Aktivistin Maria Lugones gesprägt


Von Jens Kastner


Die dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika wird in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum immer mehr rezipiert. Verknüpft unter anderem mit Namen wie Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Catherine Walsh, Walter Mignolo entwickelt sie verschiedene Modelle dafür, wie das Fortwirken des Kolonialismus bis in die Gegenwart zu begreifen ist. Eine feministische Perspektive allerdings musste in die dekolonialistischen Studien erst eingeklagt werden. Eine der vernehmbarsten Stimmen dieser Einforderung war die argentinische Philosophin und Aktivistin María Lugones, die im Juli im Alter von 76 verstarb.

Die feministischen Interventionen in die dekolonialistischen Studien sind mit jenen in andere Wissenschaftsdisziplinen und aktivistische Agenden durchaus vergleichbar: Es wird auf die mangelnde empirische Berücksichtigung der Existenzweisen von Frauen hingewiesen und zudem wird die theoretische Ausblendung der Kategorie Geschlecht beklagt. Diese Geschlechtsblindheit wird auch an der dekolonialistischen Theoriebildung kritisiert. Darüber hinaus wird auch der Feminismus selbst als Theorie und Bewegung »westlicher« (weißer, mittelschichtsgeprägter) Frauen kritisiert und wegen seiner blinden Flecken in Bezug auf den Globalen Süden infrage gestellt. 

Die 1944 geborene Maria Lugones arbeitete zuletzt als Professorin für Comparative Literature an der Binghamton University im Staat New York. Sie hat in Auseinandersetzung mit dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und mit Bezugnahme auf verschiedene Feministinnen aus dem Globalen Süden das Konzept der »coloniality of gender« entwickelt. Quijano hatte gezeigt, dass mit der Kolonisierung der Amerikas ein Machtmuster (»coloniality of power«) entstanden war. Dieses ermöglichte, regulierte und garantiert bis heute die Kontrolle über die Arbeit und auch die Verteilung von Macht über die Einteilung der Bevölkerung in unterschiedliche ethnisch-rassialisierte Gruppen (»razas«). Quijano nennt das die soziale Klassifizierung. 
Lugones erweitert nun Quijanos Ansatz, indem sie ihn mit »der wichtigen Arbeit zu Geschlecht, ›Rasse‹ und Kolonisierung, die nicht ausschließlich, aber zu einem bedeutenden Teil von Dritte Welt-Frauen und Women of Color geleistet worden ist« (1) in Beziehung setzt. Grundsätzlich wendet sie sich gegen die von Quijano noch vertretene Vorstellung, Geschlecht sei eine biologische und biologisch-zweigeteilte Tatsache. Demgegenüber betont Lugones, die Frage der Klassifizierung müsse auch auf Geschlecht bezogen werden. Geschlecht ist demnach als soziale Konstruktion zu verstehen, sowohl »Race« als auch Gender sind letztlich Fiktionen, aber eben »beides sehr machtvolle Fiktionen«. 

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses habe schließlich die von der US-amerikanischen Soziologin Patricia Hill Collins (* 1948) motivierte Intersektionalitätsforschung untersucht, wie die beiden Klassifizierungen Gender und »Race« aufeinander einwirkten und in ihrem Zusammenspiel zu analysieren seien. Intersektionalitätsforschung, bringt Lugones auf den Punkt, wurde in Bezug auf »Race« und Gender »von den Schwierigkeiten dabei motiviert, jene sichtbar zu machen, die von beiden Kategorien beherrscht und zum Opfer gemacht werden«. Intersektionalität – vom Englischen intersection, Überkreuzung, Überschneidung – addiert also nicht nur Unterdrückungsformen, sondern fragt und sucht nach ihren Überschneidungen, um Ausgelassenes und Übersehenes sichtbar zu machen.

Das ist nicht nur im Hinblick auf die Auslassung selbst und die daran anschließende Forderung nach Partizipation wichtig, sondern auch herrschaftstheoretisch bedeutsam: Denn von einer Intersektionalität auszugehen bedeutet auch, Kategorien wie »Race« und Gender nicht als homogene Einheiten zu interpretieren. Erst indem diese Homogenität zurückgewiesen wird, eröffnet sich die Möglichkeit, die Frage der Kollaboration und des Einverständnisses mit Herrschaftsverhältnissen zu stellen. Die Durchsetzung des binären Geschlechterregimes erscheint dann etwa zum Teil als »Kollaboration zwischen manchen indigenen Männern und Weißen beim Untergraben der Macht von Frauen«. So wie die Kategorie »Race« von machtrelevanten Geschlechterdifferenzen durchzogen ist, so ist auch die Kategorie Gender von ethnifizierenden, als »Race« betreffenden Differenzen durchkreuzt: Nur wenn die Vorstellung von »den Frauen« als homogene Einheit von Unterdrückten zurückgewiesen (oder zumindest infrage gestellt) wird, kann untersucht werden, wie und inwiefern auch weiße Frauen von der Ausbeutung und Diskriminierung Schwarzer Frauen oder Frauen of Colour profitieren. (2) Im nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Feminismus, der sich immer an den Frauen der weißen Mittelschichten orientiert habe, kommen die Frauen aus dem Globalen Süden nicht vor. Insofern richtet sich Lugones schließlich auch gegen den »weißen« Feminismus bzw. gegen dessen Auslassungen. 

Die Verstrickungen des weißen Feminismus

Zu diesen Auslassungen gehört eben auch der Kolonialismus und seine Effekte. Lugones beschreibt das Gendersystem als Teil des kolonialen, eurozentrischen Projekts, in das der weiße Feminismus häufig verstrickt sei und seine Rolle dabei zu selten diskutiert habe. Laut Lugones gibt es eine »light site« dieses Gendersystems, in der Gender hegemonial konstruiert wird, und eine »dark site«, in der Genderverhältnisse gewaltsam durchgesetzt wurden (und werden). Beide zusammen machen das aus, was Lugones das »modern-koloniale Geschlechtersystem« nennt.

In ihrem Aufsatz »Toward a decolonial feminism« (2010) wird dieses »modern-koloniale Geschlechtersystem« dann als Perspektive oder Linse eingeführt, durch die »die repressive Logik der kolonialen Moderne … und ihr Gebrauch hierarchischer Dichotomien« theoretisch zu fassen seien. Hier bekräftigt sie noch einmal die intersektionale Perspektive, ohne die immer Ausblendungen reproduziert würden: Wenn etwa Schwarz und Frau als homogene, einheitliche, separate Kategorien untersucht werden, sind es gerade Schwarze Frauen, die aus dem Blick fallen. 
Lugones geht in der Beschreibung dessen, was das spezifisch Modern-Koloniale an diesem Geschlechtersystem ist, über viele der intersektionalen Ansätze hinaus. Sie behauptet, die zentrale Dichotomie der kolonialen Moderne sei die zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Mit der Eroberung der Amerikas habe sich diese Unterscheidung durchgesetzt bzw. sei ins Soziale implementiert worden. Dem untergeordnet wurden weitere Kategorien wie etwa Mann und Frau, die ebenfalls hierarchisch geordnet waren. Aber: »Nur die Zivilisierten sind Männer oder Frauen«, d.h. Indigene und Afrodescientes galten als Nicht-Menschen. Diese Unterscheidung untergrabe das potenziell Gemeinsame aller Frauen. Deshalb müsse aber auch analytisch darauf zurückgegriffen werden, um zeigen zu können, dass die europäischen, weißen, bürgerlichen Frauen zwar untergeordnet, aber immer noch privilegiert waren (und sind). Auch unter den Kolonisierten sollten Männer und Frauen hergestellt werden, und zwar mittels des brutalen Zugriffs auf menschliche Körper – wobei die oben erwähnte »light site« der Durchsetzung dieses Systems in diesem Text deutlich nachgeordnet scheint. Indigene jedenfalls sollten laut Lugones bei der christlichen Mission nicht zu Menschen gemacht werden. 

Ob die Trennung in menschlich vs. nicht-menschlich wirklich so eindeutig und einheitlich war, ist allerdings fraglich. So haben etwa auch Europäer*innen wie der Dominikaner Bartolomé de las Casas (1484/85–1566) für das Mensch-Sein der Indigenen gestritten haben. Laut Lugones aber macht die Entmenschlichung einen zentralen Aspekt der Kolonialität überhaupt aus. Kolonialität ist nicht nur der Zugriff auf den weiblichen Körper und die Kontrolle über die Sexualität. Kolonialität sei immer auch »der Prozess aktiver Reduzierung von Menschen, der Dehumanisierung«. Menschen die Menschlichkeit abzuerkennen mache mache Kolonialität aus.

Vom modern-kolonialen Gendersystem zum Widerstand

Lugones nahm indes auch die andere Seite der Subjektwerdung in den Blick, den Widerstand. »Widerstand«, schreibt sie, »ist die Spannung zwischen Subjektivierung (Formen und Geformt-Werden des Subjekts) und aktivem Subjekt-Seins«. Lugones beschreibt sich demgemäß selbst als »Theoretikerin des Widerstands«. 
Diese Perspektive mache schließlich auch den dekolonialistischen Feminismus aus. Gender zu dekolonisieren sei eine Aufgabe, die die Praxis betreffe. Dekolonialistischer Feminismus wird als die Möglichkeit definiert, die »coloniality of gender« aktiv zu überwinden. Diese Praxis muss nicht unbedingt eine sozialbewegte oder alltägliche, sie kann auch eine wissenschaftlich-theoretische Praxis sein. Widerstand zu beschreiben bedeute demnach auch, nicht nur Frauen und Männer als dessen Subjekte zu betrachten. Gerade eine solche Betrachtung würde den Widerstand selbst unsichtbar machen. Die handelnden Subjekte stünden gewissermaßen immer in Klammern: »Durch Einklammern ... können wir die Logik wertschätzen, die das Soziale durch widerständige Antworten organisiert«. Die Antworten des Widerstands basieren also nicht auf vorgegebenen bzw. vorgängigen Subjekten als festen Einheiten, sondern sie beziehen sich auf Kategorien, die in Klammern gedacht werden, die also nur strategisch in Betracht gezogen werden. (Es gibt keinen selbstverständlichen Ausgangspunkt: „das widerständige Subjekt“, „das kämpfende Volk“ usw. existieren nicht als solche, sondern sie entstehen erst innerhalb von Auseinandersetzungen.) Der Widerstand hat selbst einen »fractured locus« mit hervorgebracht, einen »gebrochenen Ort«, von dem aus gekämpft wird oder auf den sich die Kämpfe beziehen. Lugones nimmt also einen relationalen Standpunkt ein: Widerstand ist immer in Relation, in Beziehung zu etwas anderem zu Denken (Herrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung) und hat dementsprechend auch keinen einheitlichen, ahistorischen Ausgangspunkt (Ort).

Lugones bezieht sich dann auf Gloria Anzaldúas Begriff des Grenzdenkens. Das Grenzdenken sei die Konsequenz daraus, den »gebrochenen Ort« zum Ausgangspunkt für die Kämpfe um die eigene Subjektivität zu nehmen. Das Widerstandskonzept ist somit eines, das ständig in Bewegung ist und auf die »Logik des Kapitals« reagiert. Es impliziert »kreative Wege des Denkens, Verhaltens und Sich-In-Beziehung-Setzens, die der Logik des Kapitals antihierarchisch entgegenstehen«. Das „modern-koloniale Geschlechtersystem“ ist Teil der Entwicklung des kolonialen Kapitalismus, auf die damit reagiert wird. 
Es ist diese Spannung, aus der der Widerstand entsteht und in der er multiple Formen annehmen kann. Auch wenn das alles etwas abstrakt bleibt: Diese Spannung ist auch insofern wichtig zu fokussieren, weil das Bild des Sozialen sich sonst, so Lugones, entweder nur auf die Macht der Kolonialität und ihre Effekte oder auf ein romatisierendes Bild der präkolumbianischen Geschichte beschränkt. An beidem war ihr nicht gelegen.


Anmerkung
1) Alle Zitate wurden vom Autoren aus dem Englischen und dem Spanischen übersetzt.
2) Den Gedanken, dass auch feministische Frauen aus dem Globalen Norden von der patriarchalen Weltordnung profitieren, hatte bereits die in Mumbai geborene und an der Syracuse University, New York, lehrende Chandra Talpade Mohanty (* 1955) in den frühen 1990er Jahren in die feministische Diskussion eingebracht.



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