in: Der Standard, Wien, 09.März 2019, Album S. 5.
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Subtile Praktiken und stabile Verhältnisse

Weder überholt, noch entmutigend: Vor vierzig Jahren erschien Pierre Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“

Jens Kastner

„Unter denjenigen“, notierte die Schriftstellerin Annie Ernaux nach dem Tod des Soziologen Pierre Bourdieu, „die sich nach der Lektüre seiner Werke befreit gefühlt hatten, verbreitete sich ein seltsamer Schmerz.“ Befreit? Ausgerechnet durch die Bücher Bourdieus? Ernaux bescheinigt dem Werk des 2002 überraschend verstorbenen Sozialwissenschaftlers in ihrem autobiographischen Buch Die Jahredamit Effekte, die viele bis heute nicht für möglich halten. Denn Bourdieus Arbeit gilt als Beschreibung dafür, wie behäbig und stabil die sozialen Verhältnisse sind. Also als Schilderung der Reproduktion des Bestehenden und weniger dafür, wie Veränderung möglich und machbar wird. Wahrgenommen wurde das vielfach als entmutigend, sogar als entmündigend, nicht als befreiend. 

Das gilt wohl insbesondere auch für eines seiner einflussreichsten Bücher, dessen Erscheinen sich in diesem Jahr zum vierzigsten Mal jährt: Die feinen Unterschiede. Die rund 900 Seiten sind sowohl Ergebnis empirischer Studien als auch gesellschaftstheoretischer Entwurf, sind methodologische wie auch politische Intervention. Das Buch, ohne Zweifel längst ein Klassiker der modernen Soziologie, enthält eine Zeitdiagnose ebenso wie eine Theorie der Herrschaft. Nicht Unterdrückung und physische Gewalt, so die zentrale These, sind entscheidend für die Beständigkeit der sozialen Verhältnisse. Sondern die Mittel, mit denen Kontinuität gewahrt und Wandel verhindert werden, sind wesentlich subtiler und beziehen die Menschen mit ein. Herrschaft reproduziert sich nicht über das Befolgen von Regeln und Gesetzen, sondern mittels Geschmacksvorlieben und Konsum, mittels Gesten und Haltungen, kurz: mit den Mitteln der Kultur. Denn diese ist nicht allen gleichermaßen zugänglich. Die soziale Herkunft ist entscheidend dafür, wie wir unsere Freizeit verbringen – und was wir gut und richtig finden. Geschmack ist eine Frage der Klassenzugehörigkeit, nicht individuellen, gar interesselosen Wohlgefallens.

Aber vierzig Jahre, das ist lange her. Ein zweiter Einwand – neben dem Entmutigungsvorwurf –, wird daher wieder laut, der schon aufkam, kaum wurde das Buch in den 1980er Jahren weltweit diskutiert: Die Thesen aus Die feinen Unterschiede, das auf Untersuchungen aus dem Frankreich der 1960er und frühen 1970er Jahre beruht, seien schlichtweg überholt. Nicht nur, dass die Zeiten sich gewandelt hätten. Auch die Wandlung selbst hat sich verändert, ist schneller und unüberschaubarer geworden. Die Soziologin Margaret S. Archer etwa hält Bourdieu zwar zugute, bezogen auf die von ihm untersuchte Zeitspanne weitgehend recht zu haben. Es sei aber fraglich, ob die soziale Herkunft noch dermaßen entscheidend sei für das, was Menschen denken und tun. Archer stellt in Frage, ob die Sozialisation, die sich im einzelnen Körper ablagert – Bourdieu nannte das den Habitus – auch im neuen Jahrtausend noch als dermaßen bestimmend für die Praxis der Menschen gelten könne, wie Bourdieu es behauptet hatte. Es ließe sich nämlich einwenden, schreibt Archer zugespitzt, „dass die jungen Menschen des neuen Jahrtausends nicht länger Bourdieus Leute sind, weil sie nicht länger in Bourdieus Welt leben.“

Aber leben wir wirklich in einer so anderen Welt, als Bourdieu sie beschrieben hat? Sicherlich haben all die Beispiele an Geschmacksvorlieben, die Bourdieu diskutiert – seien es nun Tennis oder Zigarren oder der französische Chanson – über die Jahre ihre Bedeutung verändert (oder zuweilen auch verloren). Beim Essen spielt die Abfolge der Gänge auch in den herrschen Klassen keine so große Rolle mehr. Die unteren Klassen orientieren sich nicht mehr nur daran, satt zu werden. Und dennoch: Der Umgang mit dem Essen ist bis heute stark davon abhängig, aus welcher Klasse man kommt. Das gleiche gilt für die Wahl des Ferienortes und die Art des Urlaubes, für die Bevorzugung der Freizeitsportarten und nicht zuletzt für den Umgang mit Kunst. Kurz: Die Beispiele variieren, das Prinzip bleibt gleich. Dass Geschmack sich je nach dem unterscheidet, welcher Klasse und welchem Milieu man angehört, ist bis heute in unzähligen Studien bestätigt worden. 

Mehr noch: Geschmack trägt auch dazu bei, dass die sozialen Unterschiede sich vertiefen. Auch wenn angesichts von Blockbuster-Ausstellungen und Biennalen aller Orten vielleicht der Eindruck entsteht, vor der Kunst seien alle gleich und in den Kunstausstellungen träfen Proll und Professorin ständig aufeinander. Der Eindruck täuscht. Auch aktuelle Untersuchungen zeigen: Je höher der Bildungsgrad, desto wahrscheinlicher der Museumsbesuch. Nach wie vor gilt, was Bourdieu gleich zu Beginn von Die feinen Unterschiedeschreibt: „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierendenund Klasse verleihenden“. Man wertet sein eigenes Handeln damit auf und das der anderen ab. Soziales Handeln sucht den Unterschied – „La Distinction“ heißt Bourdieus Studie im Original, und die Distinktion ist eine wertende Unterscheidung.Bourdieu ging es in erster Linie darum aufzuzeigen, dass es die subtilen und symbolischen Praktiken sind, die die Verhältnisse so relativ stabil machen. Die Tendenz deutet klar auf Reproduktion, also die immer neue Bestätigung der bestehenden Ordnung. Dies geschieht so alltäglich und banal, dass wir es kaum durchschauen. Als Soziologe aber wollte er auch darauf hinweisen, dass das alles nicht naturgegeben ist. Im Gegenteil. Und dass es Möglichkeiten gibt, sich die Ordnungsprinzipien bewusst zu machen, die die soziale Welt prägen. Darin lag – und liegt – die befreiende Kraft seiner Bücher.Selbst Kollegen, die, wie der Systemtheoretiker Armin Nassehi, Bourdieus theoretischen Bezugsrahmen nicht teilen, betonen die Attraktivität seiner Soziologie. Sie bestehe gerade darin, so Nassehi, „in aller Radikalität ernst zu nehmen, dass sich soziale Ordnung je aus der Perspektive konkreter Akteure und Aktionen erschließt“. Und was sich erschließt, lässt sich auch ändern. Das ist schließlich weder überholt und noch entmutigend. Bourdieu hielt emanzipatorische Veränderungen aber nicht für selbstverständlich. Die Empirie hatte ihn skeptisch gemacht. Insbesondere jenen gegenüber, auf die jahrzehntelang die Revolutionshoffnungen gesetzt worden waren: die proletarischen Milieus. Zeitlebens ein linker Intellektueller, wollte Bourdieu auch gegen die Illusionen der Linken anschreiben. Es sei ihm auch darum gegangen, sagte er in einem Interview zu Die feinen Unterschiede, etwas gegen die „volkstümelnde Idealisierung der unteren Klassen“ einzuwenden. Das richtete sich auch gegen den Vulgärmarxismus seiner Zeit. Als politische Enthaltsamkeit war das aber nicht gedacht. Er verstand seine Soziologie immer auch als eingreifende, als politische Intervention. Insofern trifft das Empfinden Annie Ernaux‘, sich durch das Lesen Bourdieus befreit gefühlt zu haben, durchaus dessen Absicht.


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