in: ak – analyse & kritik, Nr. 482, 19. März 2004, S. 12.

Eine disparate Menge von Problemen
Zur Debatte um kulturelle Differenz

Im deutschsprachigen Raum noch recht unbekannt, gehört der französische Philosoph und Soziologe Michel Wieviorka in Frankreich zu den führenden Köpfen seiner Zunft. Aus der Bewegungsforschung kommend, hat er sich in den 1990er Jahren mit einigen Arbeiten zum erstarkenden Rassismus hervorgetan. Auf Deutsch ist nun ein Band erschienen, in dem die Debatte um kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten noch einmal aufgerollt und systematisch erzählt wird. Mit seinen Kategorisierungen jenseits des Gegensatzes Liberalismus versus Kommunitarismus hilft er die verzettelte Diskussion zu ordnen. Herausgekommen ist eines der besten und übersichtlichsten Werke, die in den letzten Jahren zu diesem Thema geschrieben worden sind. Wieviorkas Hypothese ist dabei die, die seit Jahren von Differenz-TheoretikerInnen dem sozialwissenschaftlichen Mainstream entgegengehalten wird, dass nämlich die Moderne nicht zur Abschaffung oder zum langsamen Eingehen von kulturellen Partikularismen führt, sondern sie erst hervorbringt.

Gelten die Erfahrungen der Diaspora-Juden und der amerikanischen Schwarzen als paradigmatische Fälle für Bevölkerungsgruppen, die als Bewegungen die Forderung nach kultureller Anerkennung erhoben (oftmals verknüpft mit der sozialen Frage), bildeten sich im Zuge der Ereignisse um 1968 neue Bewegungen heraus. Erst mit diesen gewann die Frage kulturellen Differenz auch breitere wissenschaftliche Relevanz. Und das, obwohl sie zunächst im Gegensatz zu den linksradikalen Ideen und Gruppierungen zu stehen schienen. In einer zweiten Welle identitätspolitischer Bewegungen sieht Wieviorka die Frage nach kultureller Anerkennung noch stärker verknüpft mit der nach sozialer Gerechtigkeit, Beispiel hierfür sind vor allem die Indianerbewegungen in Lateinamerika. Kulturelle und soziale Logiken zu verbinden werde letztlich durch die Praxis der Diskriminierung nahegelegt. Diese zeige immer wieder an, dass Zugehörigkeiten nie neutral sind, „sondern (…) im Rahmen der sozialen Hierarchie (funktionieren).“ Darüber hinaus sei die Verbindung kultureller und sozialer Problemstellungen zwar keine zwangsläufige, aber auch eine folgerichtige Entwicklung gewesen. Denn mit dem Ende des fordistischen Zeitalters habe sich auch die soziale Frage selbst verändert, die seitdem nicht mehr ohne das Kulturelle zu stellen sei: „Im Zentrum der sozialen Frage standen nun nicht mehr Ausbeutung und Produktionsverhältnisse, sondern Ausschließung und Instabilität“.

Im zweiten Teil seines Buches verbindet Wieviorka die Herangehensweisen, sich in der Debatte um kulturelle Differenzen auf eine „disparate Menge von Problemen“ zu beziehen, mit derjenigen, nur „ganz bestimmte Phänomene“ zu fokussieren. In dieser Kombination besteht auch das Außergewöhnliche seines Buches. Es kommt ihm darauf an, sowohl Merkmale zu untersuchen, die zu gegebenen Zeitpunkten bestimmte Identitäten charakterisieren, als auch die Prozesse zu beschreiben, „in deren Verlauf die Identitäten auftauchen, sich verwandeln, auflösen und neu zusammensetzen.“ Daran anschließend widmet sich Wieviorka dem Problem der Produktion von Differenzen, wobei er die These vertritt, diese Produktion stehe „heute im Mittelpunkt der Arbeit der Gesellschaften an sich selbst“, und nicht als ein verschwindendes Phänomen an deren Rändern. Prozesse der „kollektiven Selbstbehauptung“ werden nach Wieviorka durch die komplementären Bedingungen der Existenz eines Herrschaftsverhältnisses auf der einen und eines positiven Prinzips der Achtung auf der anderen Seite ermöglicht. Unter der ersten Bedingung wird auf die theoretische wie juristische Tatsache reagiert, dass Gesellschaft kein homogenes Ganzes aus freien und gleichen Individuen ist, sondern dass (gruppenmäßige) Ablehnungen und Herabsetzungen stattfinden, gegen die sich zur Wehr gesetzt wird. Die Soziologie der Differenz, merkt Wieviorka explizit an, ist demnach „zwangsläufig auch eine Soziologie der sozialen Hierarchie, der Herrschaft und der Ausschließung“. Dem Selbstverständnis einiger Differenzfans aus den Kulturwissenschaften dürfte das widersprechen. Die zweite Bedingung besagt, dass die AkteurInnen sich auch als wertvolle Wesen erfahren müssen. Zudem zeigt sich hier bereits, dass der Identitätsproduktion nicht ein Opferstatus vorausgehen muss, sondern dass sie auch einer Sinnsuche entspringen kann.
Wieviorka schlägt deshalb vor, die Umkehrung von Stigmatisierungen als ein zentrales strategisches Moment der Differenzproduktion zu begreifen. Wie es vor allem seit den homosexuellen sozialen Bewegungen bekannt ist, können unter bestimmten Bedingungen aus ehemaligen Schmähbegriffen positive Selbstbezeichnungen werden. Dabei darf allerdings m.E. auf die Beschreibung der Hindernisse nicht verzichten, die dieser Strategie womöglich im Wege stehen. Wieviorka schließt sich einem dynamischen Modell von Ethnizität im Anschluss an das interaktionistische Paradigma an. Das bedeutet davon auszugehen, dass Ethnizität sich vornehmlich in zwischenmenschlichen Interaktionen herstellt, also als ein mikrosoziologisches Phänomen betrachtet wird. Das ist zwar um einiges plausibler, als kollektive Identität nur als Ergebnis von nutzbringenden Kalkülen und Strategien anzusehen – wie es im Anschluss an utilitaristische Ansätze geschieht. Ausgeblendet werden in beiden Fällen aber die Strukturen, die jemanden ganz ohne eigenes Zutun einer ethnischen Kategorie zuordnen, ihn oder sie – und da präsentiert die Alltagssprache ihre bürokratische Spur – abstempelt.

Dass er der Gewaltförmigkeit von Identität im Sinne einer dominanzgesellschaftlichen oder staatlich-administrativen Zuschreibung weniger Bedeutung beimisst, belegt auch der letzte Teil seiner Ausführungen. Darin beschäftigt sich Wieviorka mit dem Zusammenhang von Kultur, Identität und Erinnerung. Er weist der Erinnerung einen zentralen Stellenwert in der Konstitution von Identität zu. Andererseits brauche die Identität zu ihrer Herausbildung aber auch das Vergessen und die Amnesie, was insbesondere für die nationale Identität gilt, die ihre Gräueltaten vergessen muss, um sich zu begründen. Ein angesichts deutscher Leitkultur- und Schlussstrichdebatten nur allzu eingängiges Argument.
Für den Zusammenhang von Gedächtnis und Subjekt macht Wieviorka das Gedächtnis im Anschluss an Henri Bergsons Definition nicht als Speicher, sondern als eine dynamische Funktion aus und rechnet es – als kreativ und verändernd – der subjektiven Produktion eher zu als der Reproduktion von Ideen. Es sei aber anzumahnen, bei diesem Zusammenhang die bestimmten Modalitäten der Erinnerung zu beobachten, und nicht das Subjekt als ganz aus Erinnerung bestehend zu betrachten. Am Beispiel der nationalen Erzählung lässt sich laut Wieviorka verdeutlichen, wie Erinnern und Vergessen zusammen funktionieren. In der nationalen Identität finde das Subjekt Identität und Erinnerung, hat aber zugleich an den Prozessen der Produktion und Verbreitung einer Geschichte Anteil, „die die Opfer, Verlierer und ihre eventuelle Nachkommenschaft zu Amnesie, Vergessen und Verdrängen verdammt.“ Ist das Gedächtnis der subjektive Gegenpol zur auf Vernunft, Dokumenten und Beweisen gründenden Geschichtsschreibung – „Das Gedächtnis schreibt keine Geschichte“ –, so ist im sozialen Phänomen des kollektiven Gedächtnisses doch wieder der/die einzelne AkteurIn dem System untergeordnet. Dass kulturelle Identitäten wie die von Nationen, die im Gegensatz zu Arbeiter- oder Bauernidentitäten immer noch am besten funktioniert haben, durch aktuelle politökonomische Prozesse in Mitleidenschaft gezogen werden, stellt auch die Grundfesten der Wissenschaften in Frage, die diese zum Gegenstand hatten. Allerdings ist zu bezweifeln, ob erst der Niedergang nationaler Identitäten diagnostiziert werden muss, um die Ausrichtung der Sozialwissenschaften am Nationalstaat zu kritisieren.

Jens Kastner

Michel Wieviorka. Kulturelle Differenz und kollektive Identitäten, Hamburg 2003 (Hamburger Edition), 246 S., 25,-€.


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