Stevphen Shukaitis: The Composition  of Movements to Come. Aesthetic and Cultural Labour After the Avant-Gardes. London: Rowman & Littlefield 2016.
in: springerin, Wien, Band XXIII, Heft 2, Frühjahr 2017, S. 72.

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Text: Jens Kastner

Strategie ist der zentrale Begriff in Stevphen Shukaitis’ Buch über künstlerische Avantgarden und ihre sozialen Effekte. Und er kommt gleich doppelt zum Einsatz: Im Fokus stehen einerseits die Strategien von Akteuren. Hier werden Gruppen und Leute wie die Situationistische Internationale (SI) und die Neue Slowenische Kunst (NSK) einer Neulektüre unterzogen. Andererseits geht es um genau diese Lektüre, um den Zugriff auf Bewegungen, um die Methode also. Dabei führt Shukaitis die strategische Leseweise als „oppositional analysis“ (6) ein: Strategie sei dann nicht nur der Gegenstand, sondern auch dessen Verstehen, „an understanding of the force dynamics in motion“ (149).

Und die Methode bringt zunächst Überzeugendes hervor. Selbst viel besprochene Praktiken erscheinen so in neuem Licht. Die situationistischen Techniken des Umherschweifens, der Entwendung und der Psychogeografie sind dann nicht allein politisch-interventionistische Ästhetik, sondern Shukaitis stellt sie als das Artikulieren von „strategies of collective subjectivation“ (26) dar. Die Überidentifizierung, im Rahmen der NSK als wichtiges Mittel praktiziert, um Bedeutungskreisläufe zu irritieren und symbolische Widersprüche eskalieren zu lassen, erscheint bei Shukaitis auch als Strategie, das kollektive Imaginäre neu zu gestalten. Überidentifizierung ist „rearticulating the imagination“ (118). Und die verschiedenen Ansätze, Kunststreiks zu organisieren, interpretiert er im Zusammenhang mit allgemeiner Verweigerung von Arbeit. Shukaitis gräbt die Avantgarde-Geschichte letztlich noch einmal um. Dabei belebt er weniger die Zombies der gescheiterten Versuche, Kunst in Leben zu überführen, als dass er die temporäre und kritische Aktualität dieser Projekte auslotet. Immer wieder gibt es Verweise auf Occupy Wall Street und andere Bewegungen im 21. Jahrhundert. Das funktioniert deshalb so gut, weil die strategische Lektüre sowohl künstlerische Praktiken als auch die Praxis sozialer Bewegungen als „compositional practices“ (xiv) identifiziert, als Praktiken der sozialen Zusammensetzung. Mit diesem Begriff der Zusammensetzung rekurriert Shukaitis auf die operaistische Tradition und deren Versuche ab den frühen 1960er Jahren, die Zersplitterungen und Diversifizierungen der Arbeiterklasse zu verstehen. Die Neuformierung der Klasse wurde als neue Zusammensetzung begriffen. Seit sich ab den 1990er Jahren die Arbeit aus der Fabrik hinaus ins soziale Leben insgesamt ausgeweitet hat – (post)operaistisch gesprochen: in die fabbrica diffusa, die erweiterte Fabrik –, ist, so vertritt es auch Shukaitis, nicht mehr nur die Zusammensetzung der Klasse, sondern des Sozialen insgesamt zu befragen. Da an ihr auch Kunst und Bewegungen beteiligt sind, ist die Frage selbstverständlich sinnvoll, inwiefern und wie Kunstpraktiken auf das die soziale Welt insgesamt einwirken. Schließlich erscheint also das Agieren aus dem Kunstfeld heraus viel stärker an soziale Bewegungen und allgemeine soziale Kämpfe überhaupt gebunden, als die traditionelle Kunstgeschichte es wahrnehmen konnte.

Es muss allerdings auch ein Einwand gegen diese gründliche und theoretisch erfreuliche Studie erhoben werden. Denn die Methode der strategischen Lektüre bringt zwar Unerwartetes hervor, ist aber auch hoch problematisch. Die Begriffe Strategie und Zusammensetzung sollen zugleich als Gegenstand und als Methode fungieren. Damit werden deskriptive und normative Ebene programmatisch vermischt. Das lässt sich schon bei Operaisten wie Mario Tronti problematisieren (auf den Shukaitis sich immer wieder positiv bezieht). Und es findet sich bei allen Autoren, die mit (post-)operaistischen Methoden den Kunstbetrieb beschreiben – wie etwa Antonio Negri, Brian Holmes oder Pascal Gielen. Schon im Operaismus wird die Zusammensetzung der Klasse zugleich als analytische Kategorie und als politisches Hoffnungsmoment gesetzt. Als wenn sich bei jeder neuen Zusammensetzung tatsächlich Leute zusammensetzen und für den emanzipatorischen Kampf gegen die Arbeit entscheiden würden. Eine Zusammensetzung, die nicht progressiv ist und die keine emanzipatorischen Effekte hat, ist dann kaum denkbar. Auch Shukaitis lässt das Scheitern der von ihm beschriebenen Bewegungen letztlich nicht zu. Muss nicht auch in Erwägung gezogen werden, dass Kunstpraxis ihre Feldgrenzen nicht überschreitet? Und dass sie nicht einmal im Imaginären des nach wie vor elitären Museumspublikums Spuren hinterlässt? Oder wenn, dann die falschen (regressive, nicht-emanzipatorische)?
Die Versuche, in die allgemeinen Subjektivierungsweisen einzugreifen, die Shukaitis plausibel als gemeinsames Anliegen von postoperaistischer Theorie und situationistischer Praxis hervorhebt, sehen sich ja mit einer ganzen Reihe struktureller Hürden konfrontiert. Sie müssen deshalb auch als unterschiedlich erfolgreich konzipierbar sein. Die Schnittstellen zwischen sozialen Bewegungen und Kunstpraktiken können für die Frage des Gelingens solcher Interventionen durchaus als Indikator dienen. Darauf hingewiesen zu haben, ließe sich zumindest als Erfolg der Strategie von Shukaitis lesen.



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