in: Lateinamerika Analysen, Hamburg, Institut für Iberoamerika-Kunde (Hg.), Heft 13, Februar 2006, S. 179-181.

Rodrigues-Moura, Enrique (Hg.): Von Wäldern, Städten und Grenzen. Narration und kulturelle Identitätsbildungsprozesse in Lateinamerika, Frankfurt a. M. (Verlag Brades & Apsel).


Der argentinische Anthropologe Carlos Masotta besteht darauf: Die Auseinandersetzung, die anlässlich des 90. Todestages von Ex-Präsident Julio Argentino Roca 2004 in Argentinien entbrannte, sei kein Anachronismus, sondern Ausdruck „hegemonialer Kämpfe“.
Um die Auswirkungen und Effekte vergangener und gegenwärtiger Debatten geht es im vorliegenden Sammelband. Dabei muss der Ort nicht das Feuilleton und der Gegenstand kein Staatsmann sein: In vielen Beiträgen wird beschrieben, dass und wie die verschiedensten literarischen, künstlerischen und politischen Diskurse zu unterschiedlichsten Gelegenheiten im Dienste der Nationalstaatsbildung standen. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen haben sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem literarische Kreise um das bemüht, was später „nationale Identität“ genannt wurde. Die Identitätsbildungsprozesse, denen sich der Band widmet, verliefen dabei keineswegs eindeutig. Er bestand nicht allein im Kampf gegen die Kolonisatoren, sondern vollzog sich mal in Abgrenzung zu den Eroberern, mal im Verbund mit ihren Nachkommen, mal in scharfer Distanz zu den eigenen, indigenen Vorfahren, mal mit romantisierendem Blick auf sie, mal mit der Idee einer lateinamerikanischen „Rasse“ und dann wieder als Betonung nationaler Besonderheiten. Zwar wurde Lateinamerika, wie Bernd Hausberger in seinem historischen Rückblick betont, nicht nur diskursiv westlichen Modellen untergeordnet, sondern auch ökonomisch, „rechtlich und politisch europäischen Herrschaftsstrukturen unterworfen“. (36) Der Umgang mit diesen Strukturen gestaltete sich aber äußerst vielfältig und führte zu disparaten Problemlagen.
Michael Rössner meint sogar, dass es den geistigen Eliten im 19. Jahrhundert gar nicht um „Entkolonialisierung, sondern um eine Re-Kolonisierung“ (203) gegangen sei. Die Peripherie hätte sich mit Paris und London (statt Madrid) nur andere Zentren gesucht. Nicht wenige lateinamerikanische Intellektuelle knüpften an die Ideen der europäischen Aufklärung an und wandten diese nicht nur gegen die Spanier, sondern auch gegen die Indigenen. So erwähnt beispielsweise Cornelia Sieber, dass die Idee der Gleichheit für den ersten indigenen Präsidenten Mexikos, Benito Juárez, gerade die Verleugnung indigener Andersheit bedeutete. (137) Auch Klaus-Dieter Ertler beschreibt, wie das Indigene mit dem Siegeszug des Romans als literarischer Gattung auf „Distanz gebracht und exotisiert wurde“ (236). Im Kontext der modernen Fortschrittsgläubigkeit galten die Ureinwohner nicht als nachahmenswert widerständig, sondern als resistent eher im Sinne von rückständig. (Friedrich Engels, man erinnere sich, hatte sie deshalb als „Völkerabfälle“ bezeichnet.)

Die indigenen Kämpfe sind als positive Bezugsgröße für die Begründung kollektiver Identitäten allerdings auch nicht erst seit dem Auftauchen der Zapatistas 1994 relevant – die vom Herausgeber, trotz der politischen Bedeutung, die er der Autonomie-Problematik (17) beimisst, merkwürdiger Weise nicht erwähnt werden. So erkennt zum Beispiel Vittoria Borsò im hispanoamerikanischen Barock das „Bestehen antihegemonialer Stimmen“. (167) Während einerseits die katholische Kirche im 17. Jahrhundert ihre Macht in Bauwerken zu repräsentieren wusste, habe andererseits gerade die barocke Theatralität und Ornamentik Möglichkeiten geboten, indianische Formsprachen – in der Innenausstattung zum Beispiel – einfließen zu lassen. Borsò macht hier gar eine „hybride Kunst“ (173) aus, die sie als Vorläuferin für die gegenwärtige Vermischung massenmedialer Bilder beschreibt. Aber es ist nicht nur der Innenraum einer Kirche, der die AutorInnen zu positiver Bezugnahme auf bestimmte Identitätskonzepte führt. Raum überhaupt scheint sich als ein Paradigma gegenwärtiger Kultur- und Literaturwissenschaften herauszukristallisieren. Das bietet sich insbesondere dort an, wo, wie in Lateinamerika, zeitliche Ursprünge immer schon durchkreuzt oder von der Eroberung zerstört waren.

Konsequent schließt dann auch Heriberto Cairo Carous Analyse geopolitischer Diskurse an die Auseinandersetzungen mit künstlerischen Narrationen an. Cairo Carou widmet sich supranationalen Identitäten, also solchen Gemeinsamkeitsvorstellungen, die gegenwärtig über den nationalen Rahmen hinaus geschaffen werden sollen. Er untersucht dazu einerseits hegemoniale Projekte wie das geplante gesamtamerikanische Freihandelabkommen (ALCA) und die Iboamerikanische Gemeinschaft der Nationen (CIN) und andererseits die beiden wichtigsten diskursiven Widerstandstrategien (321): Die keynesianistische Variante des Rückzugs auf die Stärkung der Nation(en) und die indigen-autonome Mobilisierung transnationaler Bewegungen. Während die Großprojekte mangels sozialer Verankerung kaum der Identitätsstiftung dienten, schüfen vor allem die „neuen indigenen Identitäten“ (330) wirkmächtige Gegen-Räume. Denkt Cairo Carou diese vor allem als transnationale Mobilisierungen, meint Miguel Gamboa mit indigenen Räumen ganz konkrete Territorien. Diese, in seinem Beispiel in Kolumbien, hätten die Bewegungen erst bestärkt und ihnen politische Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

Will man Identität nicht als kulturelle Bande verabsolutieren oder als spirituelle Heimat verklären, wird an diesem Punkt deutlich, wozu sie eigentlich dient: Als Mittel zur Durchsetzung von Interessen. Erschöpfend erklärt ist sie mit diesem Hinweis allerdings noch nicht. Was Identität zu einem kulturtheoretischen Dauerbrenner hat werden lassen, sind ja gerade die ambivalenten Wechselwirkungen zwischen Zuschreibung und Bekenntnis, Zwang und Selbstbestimmung. Der Band liefert eine Fülle von Material und die Studien zeigen insgesamt einen schönen, länderübergreifenden Einblick in literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zu Lateinamerika auf. Dieser trägt nicht wenig auch zum Verständnis gegenwärtiger politischer Kämpfe bei. Auf die Amivalenz des Identitätsbegriffes wird dabei aber nur selten eingegangen. Dazu hätten vielleicht einerseits mehr Minderheiten- oder auch feministische Positionen und andererseits strukturtheoretische Ansätze aufgegriffen werden müssen. Beispiele dafür allerdings, wie eng literarische Diskurse und politische Praktiken miteinander verknüpft sind, bringt das Buch zu Hauf. Auch beim argentinischen Nationalhelden Roca war es die Idee eines nationalen Weges vom wirren Chaos zur ordentlichen, einheitlichen Identität, die sich in der Ausrottung der indigenen Bevölkerung materialisierte.

Jens Kastner

Rodrigues-Moura, Enrique (Hg.): Von Wäldern, Städten und Grenzen. Narration und kulturelle Identitätsbildungsprozesse in Lateinamerika, Frankfurt a. M. (Verlag Brades & Apsel), 474 S., 29,90 €.


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