in: ak – analyse & kritik, Nr. 509, Hamburg, 15. September 2006, S. 22.

Sind die KünstlerInnen an allem schuld?
Wie ästhetische Bewegungen die Gesellschaft verändern können

Mit ihren Forderungen nach Kreativität und Autonomie haben die Proteste von 1968 entscheidend zu einer Veränderung von Arbeits- und Lebensverhältnissen beigetragen. Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) haben die dahinter stehende Kritik an Technokratie und Alltag der fordistischen Ära als „Künstlerkritik“ (im Unterschied zur Sozialkritik) bezeichnet und als maßgeblich für den „neuen Geist des Kapitalismus“ ausgemacht.

Auch Andreas Reckwitz weist den kulturellen Bewegungen eine besondere Stellung in gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu. Ihm geht es aber weniger um den Kapitalismus als um die Kultur der Moderne. In einem Werk, das dem Klotz von Boltanski/Chiapello in Umfang und Dichte in nichts nachsteht, entwirft Reckwitz nicht weniger als eine „dekonstruktivistische Kulturtheorie“. Diese, und das ist schon folgerichtiger Ausdruck des theoretischen Ansatzes, beschäftigt sich vor allem mit Subjektformen. Denn Kultur besteht aus sozialen Praktiken. Und im Vollzug von Praktiken findet auch die Produktion und Reproduktion von Subjektformen statt. Im Anschluss an die kulturalistischen Sozialtheorien fasst Reckwitz das Subjekt also als sozial-kulturelle Form, als „kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen“. Die Veränderung von Subjekten findet auf drei Ebenen statt, auf „drei primären Sphären der Subjektivation“: Arbeit, Intimität und Technologien des Selbst. Zu einer Änderung der Subjektordnung als ganzer kommt es nur, wenn auf allen drei Ebenen gleichzeitig Verschiebungen stattfinden. Dies hat laut Reckwitz im Übergang von der bürgerlichen Moderne zur organisierten Moderne der Angestelltenkultur um die 1920er Jahre stattgefunden. Und ein weiteres Mal von dieser zur Postmoderne mit ihren Kreativsubjekten seit den 1970er Jahren.

Wie kommt es zu diesem Wandel? Da kommen die kulturellen Bewegungen ins Spiel, die laut Reckwitz neben den humanwissenschaftlichen Diskursen und der materiellen Kultur der Artefakte (Technologie) einer von drei „Orten der primären Bedeutungsproduktion neuer Subjektcodes und -formen“ sind. Anders als bei sozialen geht es bei kulturellen Bewegungen weniger um Protestbewegungen, die für die Umverteilung von Ressourcen kämpfen. Es geht vielmehr „um den Versuch, der dominanten Kultur widersprechende Sinnmuster, alternative Identitäten und Subjektivitäten auszubilden.“ Von allen kulturellen Bewegungen – dazu gehören ethnische, religiöse und auch politische – seien nun gerade die ästhetischen Bewegungen besonders effektiv gewesen, was die Veränderung der modernen Kultur als ganzer betrifft. Die Bewegungen, die an den genannten Übergangen von bürgerlicher zu organisierter Moderne und dann zur Postmoderne aktiv waren, sind die Romantik, die Avantgarden und schließlich postmoderne Kunst und Gegenkultur.

Die besondere Bedeutung der ästhetischen Bewegungen liegt laut Reckwitz darin, dass sie gerade nicht nur auf die Kunst zielen, sondern versuchen, „dem Subjekt als radikal modernem die Struktur ästhetischer Subjektivität anzutrainieren“. Sie reagieren auf Brüche in der dominanten Subjektkultur und formieren sich als „anti-hegemoniale Bewegungen“. Die ästhetischen Bewegungen hätten aber nicht nur neue Codes entwickelt, sondern auch versucht, diese in die Praxis umzusetzen. Und zwar auf allen drei Ebenen, auf denen es laut Reckwitz um die Herstellung von Subjekten geht (den „Sphären der Subjektivation“): „Praktiken der Arbeit, die zum großen Teil in solche der Kreativproduktion überführt werden, Praktiken der intimen Beziehungen, die sich von der bürgerlichen Familie entfernen, sowie Technologien des Selbst, die offensiv wahrnehmungs- und erlebnisorientiert sind.“

Reckwitz begreift die postmodernistische Kunst als Trainingsfeld einer sich in ihrer Folge durchsetzenden neuen Subjektform, dem „kulturrevolutionärem Subjekt“. Im Falle des letzten Übergangs habe das Training darin bestanden, alle Personen und Gegenstände aus ihrem Verwertungs- und Handlungszusammenhang zu lösen und „als spektakuläre ästhetische Objekte zu behandeln.“ Mit dieser neuen Verwendung sei neuer Sinn gestiftet und vor allem intensiveres Erleben, sprich Vergnügen hergestellt worden. Die postmoderne Kunst habe also mit ihrem Angriff auf die „Angestelltengesellschaft“ das „konsumtorische Kreativsubjekt der Postmoderne“ vorbereitet.

Romantik, Avantgarden und postmoderner Kunst waren auf verschiedene Arten daran gelegen, Kunst und Leben zu versöhnen bzw. die Trennung zwischen beiden aufzuheben. Insofern ist es einerseits plausibel zu betonen, die postmoderne Kunst habe – analog zur poststrukturalistischen Theorie – die Überschreitung der Grenzen des Ästhetischen und des Kulturellen in die „Materialität der Alltagswelt“ betrieben. Andererseits aber erscheint es dennoch problematisch, das gegenwärtige Subjektmodell als die Erfüllung der Träume und Forderungen von 1968, postmodernistischen und gegenkulturellen Bewegungen zu betrachten. Denn wenn auch viele Momente der gegenwärtig dominanten Subjektform dort ihren Ursprung haben, der Neoliberalismus wurde weder von KünstlerInnen erfunden noch durchgesetzt. Hier waren ganz andere, von think tanks ausgehende gesellschaftliche Kräfte im Spiel – und schließlich spielentscheidend. Indem er die ästhetischen gegenüber den rationalisierenden und disziplinierenden Mechanismen der Moderne hervorhebt, bleibt auch die zweite Hälfte der „ästhetisch-ökonomische(n) Doublette“, wie Reckwitz die aktuelle Subjektform nennt, bei ihm nur schwach beleuchtet. Und auch die Inhalte, die im Zuge der kulturellen Bewegungen formuliert wurden – antikapitalistische, feministische, antikoloniale, antirassistische etc. –, sind laut Reckwitz sekundär. Denn die Politisierung von Gegenkulturen und postmodernistischer Kunst sei „im Kern eine kulturelle Politisierung“ gewesen. Es sei eigentlich darum gegangen aufzuzeigen, dass scheinbar Festes in Wirklichkeit kontingent und subvertierbar ist.

Zwei wesentliche Punkte unterscheiden Reckwitz´ Ansatz von anderen postmodernistischen Beschreibungen gegenwärtiger Subjekte: Zum einen betont er, dass es sich bei dem „konsumtorischen Kreativsubjekt“ nicht um eine von vielen pluralisierten, individualisierten Möglichkeiten handelt, sondern tatsächlich um ein einziges hegemoniales. Und zum anderen sei es als Praxis- und Diskursformation nicht frei flottierend, sondern habe eine präzise bestimmbare Trägergruppe: „die aus den höheren Mittelschichten erwachsende Milieuformation der urbanen creative class.“ In dieser Analyse trifft er sich wieder mit Boltanski und Chiapello. Im Gegensatz zu diesen fragt er aber nicht nach der Rolle jener bei der Optimierung kapitalistischer Verwertungsbedingungen. Die Mechanismen der Durchsetzung eines Subjektmodells interessieren Reckwitz weniger als seine Beschaffenheit. Hierin ist sein Buch wegweisend und nicht zuletzt aufgrund der Systematik und Informiertheit eine beeindruckende Studie. Obwohl sie auch mit dem Hinweis auf die aus dem Lateinischen abgeleitete Doppelbedeutung des Subjektbegriffes beginnt – subicere: unterwerfen, sich unterwerfen –, widmet Reckwitz Macht und gesellschaftlichen Kämpfen keine große Aufmerksamkeit.

Jens Kastner Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006 (Verlag Velbrück Wissenschaft), 704S., 45,- €.


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