in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XIX, Heft 3, Sommer 2013, S. 73.

C. B. Daring, J. Rogue/ Deric Shannon/ Abbey Volcano (Hg.): Queering Anarchism. Addressing and Undressing Power and Desire. Oakland, Edinburgh, Baltimore: AK Press 2012, 256 S.

Text: Jens Kastner, Hannahlisa Kunyik


Anarchistische Theorie (und Praxis) erkennt zwar neben Eigentumsverhältnissen schon von klein auf (Bakunin, Goldmann, Mujeres Libres,...) Sexualität als Moment gesellschaftlicher Unterdrückung und Ort der Befreiung. Doch ist diese Perspektive im anarchistischen Malestream nicht zwingend verankert. Zeit also, Anarchismus zu queeren (Queering Anarchism), wie ein neuer Sammelband jetzt vorschlägt.
Queer bezeichnet Kritik an normierter und normierender straighter Sexualität, sowie deren Folgeerscheinungen und Institutionen. Etwas zu queeren heißt unter anderem, Körperform (sex), Identität (gender) und Begehren aus einem als natürlich postulierten bipolaren, normativ heterosexuellen und daher hierarchischem Verhältnis oder dessen Selbstverständnis zu lösen. Aber queer, wenn auch aus lesbisch-schwulen-bi-transgender-Aktivismen und dekonstruktivistischem Feminismus hervorgegangen, umfasst mittlerweile noch weit mehr als Geschlechterpolitiken. Queer fungiert, wie die Herausgeber_innen eingangs feststellen, als Raum, „um Identitäten zu kritisieren und mit Theorien, Körpern, Macht und Begehren zu spielen“. Darin bestehe bereits eine erste Übereinstimmung mit anarchistischen Konzepten. Denn Anarchismus ziele auf die Zerstörung von Macht über andere, auf die Zerschlagung der Mittel, mit denen Menschen ausgebeutet werden. Neben dieser „destruktiven“ habe der Anarchismus aber auch „konstruktive“ Seiten: die nicht-hierarchische soziale Beziehungen, Autonomie, Solidarität und gegenseitige Hilfe. In beiden Grundzügen vereint sich auch schon die wichtigste Gemeinsamkeit von anarchistischen und queeren Politiken, eine, wie die Herausgeber_innen es für queer formulieren, „antagonistische Beziehung zum Normalen“.

Der Band verfährt also angenehm mehrdimensional: Einerseits werden neben Unterschieden – und dem Verqueerungsbedarf des Anarchismus – auch  Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Dabei unterscheiden sich die Texte sehr in ihrer akademischen Explizitheit. Das mag die eine oder den anderen Akademiker_in vielleicht irritieren, gehört aber zum Plan – quasi queering in practice. Andererseits soll nun nicht nur Anarchismus gequeert werden, auch queer wird mit Anarchismus konfrontiert.
Queere Politik müsse etwa – wenn sie  anarchisch/gesamtherrschaftskritisch sein wolle –  eingebunden sein in eine antikapitalistische Klassenanalyse. Und die wiederum ziele nun mal darauf ab, die Ausbeutung der Arbeit und zuletzt auch die Kategorie der Arbeiterklasse abzuschaffen. So zumindest argumentiert Gayge Operaista.
Auch auf die Vernachlässigung der materiellen Bedingungen von Gender und Sexualität innerhalb queerer Kritik wird hingewiesen. Stephanie Grohmanns Analyse zufolge ist die Verbindung von „Basis“ und Gender viel tiefgreifender als es Fragen um Sexismus und Homophobie am Arbeitsplatz nahelegen. Viel mehr seien Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität Ergebnisse von Kapitalismus: Das System der Erwerbsarbeit erfordere rationale, berechnende, aggressive und konkurrierende Individuen einerseits. Andererseits verlange das reproduktiv und unbezahlt Private wiederum nach sanften, handhabbaren, emotional unterstützenden und fürsorglichen Akteur_innen. Die Exklusion von Frauen, Lesben, women of color et al. ist demnach kein externes (sexistisches), sondern ein im Kapitalismus fußendes Grundproblem.

Neben den gemeinsamen bzw. sich durchkreuzenden Defiziten in den Analysen werden aber auch die positiven Ansätze vor allem in den sich oft überscheidenden Praktiken besprochen. Eine besondere Beziehung zwischen queer und Anarchismus stellen auch BDSM-Verhältnisse dar („Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“). HEXE beschreibt in ihrem kinky Aufsatz Konsens als den größten gemeinsamen Nenner von BDSM als (zum) Teil queerer Praxis und anarchistischem Anspruch. BDSM als ein Bereich, in dem Macht und Unterwerfung genossen werden können, da sie spielerisch und freiwillig eingesetzt werde, sei eine Praxis, bei welcher es – wider mancher Erwartung – besonders auch um eines geht: aufeinander aufzupassen. Und darin, so HEXE, unterscheide sich die dominante (Herrschafts-)Kultur von BDSM. Diese sei nämlich „furchtbar, was Konsens anbelangt“ („terrible at consent“).

Dass sich die beiden Formen der Herrschaftskritik besonders gut zum gegenseitigem Erzeugen von Synergien eignen, zeigte sich in der Praxis schon des längeren. Die Überschneidung subkultureller Szenen, die Existenz von Veranstaltungen, Organisationen und Orten mit queeren wie anarchistischen Ansprüchen und oder Akteur_innen ist aus linkem Aktivismus lange nicht mehr wegzudenken. Die Erscheinung dieses Sammelbands ist folglich schlicht so folgerichtig wie erfreulich.



Mehr zum Thema Anarchismus


Harmonischer Farbauftrag, Punk und Diskurs
Allan Antliffs Studie zum Verhältnis von Anarchie und Kunst ist leider nur zum Teil gelungen
in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 363, November 2011, S. 16. [Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Verrückte Destabilisierung
Sind queere Theorie und Praxis anarchistisch? Oder ist der Anarchismus queer? Ein kleiner Überblick
in: graswurzelrevolution, Nr. 355, Münster, Januar 2011, S. 16-17.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Die Aufteilung des Gemeinsamen
Der französische Philosoph Jacques Rancière beschäftigt sich mit dem Widerstand der Kunst, der Befreiung der ArbeiterInnen durch nächtliches Lesen und dem Kampf um den „Anteil der Anteilslosen“. Ist er Anarchist?
in: graswurzelrevolution, Münster, Nr. 332, Oktober 2008, S. 15-16.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]

Die ganz anderen Liberalen
Auch die Mexikanische Revolution hatte ihren anarchistischen Flügel: den Magonismus
in: ILA, Bonn, Nr. 340, November 2010, S. 7-8.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen] [Initiates file downloadDownload als pdf]

Lügner und Sektierer
Simone Weils Essay zur generellen Abschaffung der Parteien wurde wieder aufgelegt. Ihre Thesen werden der heutigen parlamentarischen Demokratie nicht mehr gerecht
in: Der Freitag, Berlin, 17.09.2009.
[Artikel in Freitag lesen]

Revolutionseffekte
Warum weder Rick aus Casablanca noch Stiller von Max Frisch etwas über die Spanische Revolution erzählen. Aus Anlass des 70. Jahrestages.
in: Graswurzelrevolution, Nr. 310, Münster, Juni 2006, S. 13.
[Opens internal link in current windowArtikel lesen]