in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Band XII, Heft 4, Herbst 2006, S.73.

Michael Leicht: Warum Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte. Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie, Bielefeld 2006 (transcript Verlag).


Jens Kastner

„Die Dokumentarfotografie hat Berge von Indizien angehäuft“, schreibt der Fotograf und Kunsttheoretiker Allan Sekula 1978, und zugleich habe sie „durch diese bildliche Präsentation von wissenschaftlichen und rechtsgültigen `Tatsachen´ viel zum Spektakel, zu visueller Stimulierung, Voyeurismus, Terror, Neid und Nostalgie beigetragen und nur wenig zum kritischen Verständnis der gesellschaftlichen Realität.“ Sekulas Kritik richtet sich hier gegen eine vor allem US-amerikanische Tradition, zu der auch der berühmte Fotograf Walker Evans (1903-1975) gehört.

Im Auftrag des Magazin Fortune bereiste Evans in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre den US-amerikanischen Süden, um die dortigen Lebensverhältnisse zu dokumentieren. Die Regierung Roosevelt hatte im Kontext ihrer Politik des New Deal die Farm Security Administration (FSA) gegründet, um die miserablen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im ländlichen Süden zu verbessern. Unter der Bedingung, Negative und Publikationsrechte seiner Bilder zu erhalten, stellte die FSA ihren „information specialist“ Evans für die Fortune-Aufnahmen frei. Evans´ Fotos von verarmten Farmerfamilien wurden als Buch mit dem Titel „Let us praise famous men“ publiziert, das heute zu den Klassikern der sozialdokumentarischen Fotografie gehört. Als Vorkämpfer fotografischer Sozialkritik ist Walker Evans aber zu Unrecht in die Kunstgeschichte eingegangen. Das ist eine der zentralen Thesen in Michael Leichts großartiger Studie über ein einziges der 31 Evans-Fotos von drei armen Farmpächterfamilien, das Foto der Farmerin Katie Tingle.

Dass weder die Arbeitskämpfe (mit 88 Toten zwischen 1934 und 1936) noch die Kindersterblichkeit oder die Lebensverhältnisse von Schwarzen in der Arbeit Evans´ vorkommen, nimmt Leicht als Indiz dafür, dass deren Ausrichtung mit sozialkritischer Betrachtung wenig zu tun hat. Vielmehr stünden die Fotos im Kontext einer allgemeinen Umorientierung der FSA-Politik „in Richtung der Erstellung affirmativer Bilder zur amerikanischen Identität und der Propagierung der Schönheiten des ländlichen Daseins“. Und dass diese Identität – wie jede andere auch – auf der Konstruktion eines ihr gegenübergestellten „Anderen“ beruht, zeigt Leicht am Beispiel der Abbildung jener Farmerin (und ihrer Familie).

Mit leicht geneigtem Kopf, unbewegter Mimik und leicht verkrampfter Körperhaltung scheint die nur mit einem sackartiken Gewand bekleidete, barfüßige Frau dem Fotografen bei seiner Arbeit nicht gerade entgegengekommen zu sein. Von dieser Verweigerung ausgehend, fragt Leicht nach deren „Verhältnis zur Arbeit selbst und zur Bildentstehung“. Es geht also nicht nur um Fragen der Repräsentation, sondern um solche der Produktion. Indem er die Haltung – im mehrfachen Sinne des Wortes – der Protagonistin zum Ausgangspunkt seiner Studie nimmt, verkehrt Leicht nicht nur die übliche, auf den Produzenten oder die Produzentin fixierte Auseinandersetzung mit Bildern. Es gelingt ihm auch, der rein ästhetischen Bildbetrachtung eine solche entgegenzusetzen, die ethische, soziale und politische Kriterien mit einbezieht.
Das offensichtlich zurechtgeschnittene Format der Fotografie von Katie Tingle ist paradigmatisch für die Vorgehensweise bei der gesamten Serie, die die Farmpächterfamilien nicht in ihrer Arbeitswelt, sondern als ihres Kontextes weitgehend enthobene, einzelne Menschen zeigt. Sie selbst hatten ganz offensichtlich keinerlei Einfluss auf die Zusammenhänge, in denen sie abgebildet wurden. Indem Evans Katie Tingle und ihre Familie als verwahrloste und dem Fotografen zudem unkooperativ gegenüber stehende Objekte darstellt, schafft er selbst erst den zur Konstruktion der US-Identität notwendigen Gegenpol. Denn die Tingles sind ganz sicher keine zu preisenden „famous men“, die die harten Zeiten aufrecht und stolz gemeistert haben. Sie sind keine VertreterInnen von Ordnung, Reinheit und Schönheit, für die bestenfalls noch die anderen beiden, so ins Bild gesetzten Familien stehen können. Am Beispiel des Fotos von Katie Tingle beschreibt Leicht, was wohl für die gesamte Arbeit Evans´ gilt, dass nämlich seine Fotos nicht auf der Einfühlung in die Situation der Abgebildeten beruht, sondern dass ihr vielmehr „soziale Distanzierung“ zu Grunde liegt. Walker Evans musste Katie Tingle gegenüber wegen ihrer Haltung also keinen Groll hegen, sondern konnte ihr letztlich sogar dankbar sein. Denn sie hebt die gewollte Differenz zwischen ihm selbst und der Farmerin noch hervor. Es ist ein Mangel in der Bildproduktion – also Walker Evans´ fehlendes Einfühlungsvermögen in die Situation der Abgebildeten –, der in der Rezeption „zu definitiven Aussagen über nicht die Norm erfüllende und nicht der Ordnung fähige Protagonisten“ wird.

Aber auch die immer wieder gelobte „Würde“ und „Schönheit“, die in den Fotos der anderen angeblich zum Ausdruck komme, unterzieht Leicht einer fundamentalen Kritik. Sie spiegelten weit weniger die Lebenssituationen geschweige denn die Charaktere der Abgebildeten wieder, als dass sie der Legitimierung der Arbeit des Fotografen dienten. Damit thematisiert Leicht auch die grundsätzliche Problematik alles Dokumentarischen in der Kunst. Schließlich wohne jeder „dokumentarischen“ Fotografie durch ihre Überführung in den Bereich des Künstlerischen ein „Moment der Bemächtigung“ inne. Noch die ernsten Mienen der Abgebildeten stünden in erster Linie für die „ernsten“ Anliegen der Bildschöpfer. Sie brächten weniger einen entbehrungsreichen Alltag ohne Vergnügen als vielmehr die „Interessen der jeweiligen Bildproduzenten“ zum Ausdruck. Dadurch seien künstlerisch-dokumentarische Strategien wie sie auch von zeitgenössischen Künstlern wie Richard Avedon oder in so mancher Bildreportage über Menschen aus „einfachen Verhältnissen“ oder „fernen Ländern“ angewandt werden, immer „Bestandteil eines Systems symbolischer Gewalt“.

Dass die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Darstellungsweisen der verschiedenen Familien innerhalb der Serie offenbar auch dem großen Teil der RezipientInnen von Evans´ Arbeit nicht aufgefallen ist, spricht nur für Leichts These. Wie Evans selbst gehören auch die von der Ausdruckskraft seiner Fotos begeisterten KunstkritikerInnen einer bestimmten Klasse an. Ein Milieu, das mehr nach ästhetischen Kriterien beurteilt statt nach Produktionsbedingungen zu fragen.

Die Klassenbedingtheit der Kunst hatte auch Sekula in dem zitierten Aufsatz schon hervorgehoben. Er wies darin auch auf den mit gesellschaftlichen Verhältnissen versöhnenden Aspekt einer dokumentarischen Kunst hin, die immer zwischen subjektivem Ausdruck und objektiven Anspruch des Künstlers/der Künstlerin laviert. Vor diesem im Grundsatz unveränderten Hintergrund weist Leichts Buch Dank seiner Bezüge zur Gegenwartsfotografie darauf hin, wie aktuell eigentlich Sekulas Plädoyer nach wie vor ist, „das Dokumentarische neu (zu) erfinden.“


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in: Kultur & Gespenster, Heft 6, Hamburg, Winter 2008, S. 194-196.
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