in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 309, 56. Jg., Heft 4/2014, S. 588-589.


Lauggas, Ingo, Hegemonie, Kunst und Literatur. Ästhetik und Politik bei Gramsci und Williams, Löcker (Reihe Cultural Studies, Bd. 11), Wien 2013 (250 S., br., 24,80 €)

Die Geschichte der Kunst ist nicht die der Künstlerinnen und Künstler. Die Unterscheidung zwischen der Historisierung und Periodisierung von literarischen und künstlerischen Werken auf der einen und den Veränderungen der gesellschaftlichen Rollen und Funktionen, die Künstlern und – allgemeiner - Intellektuellen zukommt, war Antonio Gramsci sehr wichtig. Diese Differenz ist auch einer der Ansatzpunkte für Lauggas, um sich auf die Suche nach einer spezifischen Ästhetischen Theorie in dessen Schriften zu machen. Diese erschließe sich, so die zentrale These, erst im Kontext der Hegemonie-Theorie, und umgekehrt werde diese durch >den ästhetischen Aspekt erst vervollständigt< (10f). Dieser kunst- und kulturtheoretische Fokus rechtfertigt sich insofern, als Gramsci keineswegs nur der Parteistratege war, als der er nach seinem Tod 1937 oft herhalten musste, sondern vor allem in den letzten vier Jahrzehnten zu einem der zentralen Stichwortgeber der Cultural Studies geworden ist. Die Akademisierung hat – wie auch die parteistrategische Instrumentalisierung – seinem Werk nicht immer gut getan. Sie ging mit zwei wesentlichen Mängeln einher: zum einen der Ausklammerung der aktivistischen oder zumindest praxisorientierten Aspekte von Gramscis Schaffen. Und zum anderen blieb angesichts von Teilübersetzungen, Readern und Auswahlbänden - die dt. Gesamtausgabe der Gefängnishefte liegt seit Ende der 1990er Jahre vor - häufig außer Acht, dass in Gramscis teils skizzenhaften, oft fragmentarischen Schriften >auch die Methode ein Politikum ist< (127). Das Werk des Theoretikers wird demnach als ein explizit offenes präsentiert, wobei diese Offenheit freilich keinesfalls mit inhaltlicher Inkonsistenz gleichzusetzen ist.

Verf. setzt den üblichen Cultural-Studies-Genealogien nicht nur eine weitere hinzu. Für den deutschsprachigen Kontext außergewöhnlich ist seine Kenntnis der kulturtheoretischen Debatten in Italien vor und nach Gramsci. Wie der Bd. überzeugend nachzeichnet, lassen sich zentrale Fragen von dessen Werk überhaupt nur verstehen, wenn sie (auch) als Reaktionen auf Probleme gelesen werden, die sich Benedetto Croce und Francesco de Sanctis stellten. Steht Croce im Umgang mit Literatur und Kunstwerken für eine >rigorose Formästhetik< (49), fragt de Sanctis bereits nach deren Rolle im >kulturellen Kampf ganz in Gramscis Sinne< (53). Gramsci war es nun darum zu tun, die formalen Aspekte künstlerischen Schaffens ernst zu nehmen und sie dennoch bzw. gerade damit im Kontext gesellschaftlicher Kämpfe zu verorten. Verf. diskutiert also eine Fragestellung, die zum einen die Kunstsoziologie geprägt hat und die andererseits auch innerhalb der marxistischen Kulturtheorie zentral war und ist: Wie prägen außerkünstlerische Entwicklungen – Ökonomie, Politik, etc. – Kunst und Literatur und welche Effekte zeitigen diese spezifischen Praktiken und Werke wiederum in der allgemeinen Geschichte und Kultur. Ohne auf andere Theoriestränge, die sich diesen Problemen gewidmet haben, einzugehen – etwa auf die Kritische Theorie oder Pierre Bourdieu und seine Schüler/innen –, betont Verf. die besondere Rolle, die Gramsci bei der Beantwortung dieser Fragen bis heute zukommt. Er belegt diese Bedeutung des Hegemonie-Theoretikers mit detaillierten Teilstudien zu dessen Werk und Rezeption. Gramscis Lesweise einer Szene aus Dantes Göttlicher Komödie etwa wird ausführlich nachvollzogen, denn er verknüpfe dabei paradigmatisch >die Episoden des politischen Heroismus und der persönlichen Tragödie< (98), anstatt sie, wie Croce u.a., als voneinander getrennt wahrzunehmen. Dieser Exkurs baut genau die Spannung auf, die Verf. zwischen Gramscis Beschäftigung mit ^Hochkultur^^ und den kulturellen Praktiken der einfachen Leute erzeugen will, die später für die Cultural Studies so anschlussfähig wurde. Die Besprechung der Gramsci-Rezeption Stuart Halls macht noch einmal das Ringen der linken Intellektuellen um eine politisch interventionsfähige Theorie deutlich, die in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften so häufig unterschlagen wird.

Anders als der Titel des Buches also vermuten lässt, der gleich fünf Großbegriffe bzw. Themenbereiche vereint – Hegemonie, Kunst, Literatur, Ästhetik, Politik –, handelt es sich bei der Studie weniger um ein Überblickswerk als vielmehr um eine sehr genau vorgehende und an scheinbar unbedeutenden Details und deren Theorierelevanz interessierte Arbeit. Allerdings versäumt Verf. es manchmal, die zentralen Ergebnisse seiner theoretischen Suche aus dem Wust von Einzelfragen hervorzuheben. Warum etwa der britische Literaturwissenschaftler Raymond Williams im Titel neben Gramsci steht, erschließt sich nur langsam. Das Verdienst von Williams’ Gramsci-Lektüre sieht Verf. darin, den Weg zur eingangs problematisierten kulturwissenschaftlich verfahrenden Ästhetik auf der Grundlage seines >kulturellen Materialismus< zu eröffnen. Denn das Konzept der >Gefühlsstrukturen< greife nicht nur außerhegemoniale Momente in den Effekten von Kunstwerken auf. Es leite überhaupt dazu über, nicht nur Schöpfer und Schöpfung, sondern viel allgemeiner Produzent/innen und Rezipient/innen künstlerischen Schaffens in Beziehung zu setzen. Neben der kulturwissenschaftlichen Analyse geht es Lauggas auch um den >Akt der Kritik< (188). Für die kulturkritische Auseinandersetzung der Gegenwart hat er eine grundlegende Arbeit vorgelegt, für die Gramsci-Forschung eine fortan unumgängliche.

Jens Kastner (Wien)


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