in: Frankfurter Rundschau, 6. Juni 2003, S. 12.

Der Migrant und die Politik
Konjunkturen des europäischen Rassismus

Von Jens Kastner

Wer hier zu Lande von Rassismus spricht, bezieht sich in der Regel auf die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Mit der Kategorie Rasse war im Nachkriegsdeutschland auch der Begriff Rassismus diskreditiert, und was in Frankreich oder England auch gegenwärtig als „rassistisch“ bezeichnet wird, heißt bei uns „ausländerfeindlich“. Wer aber heute von Rassismus spricht, muss sich nicht unbedingt auf die absurde Vorstellung menschlicher Rassen beziehen. Auch die weit verbreiteten Ideen von „Abstammungsgemeinschaften“ oder unveränderlichen Kulturen schließen von der behaupteten Gruppenzugehörigkeit auf individuelle Charaktereigenschaften und ordnen diese hierarchisch an. Insofern verdienen auch sie die Bezeichnung Rassismus. Diesen Rassismus genauer zu beschreiben gelingt in Christine Morgensterns umfangreicher Studie zum politischen Diskurs der Einwanderung in Deutschland. Die ausführliche Analyse der Bundestagsdebatten zum Thema ist einerseits eingebettet in historische Betrachtungen, in denen die Autorin die Entstehung des modernen Rassismus in Deutschland als ein Resultat der Verbindung von archaischem Antijudaismus und wissenschaftlichem Rassismus nachzeichnet. Andererseits ist der Fokus auf die Parlamentsdebatten nur nachzuvollziehen durch den ersten, theoretischen Teil der Arbeit.
Rassismus wird hier mit Hilfe von Ideologietheorie und Diskursanalyse als ideologische Formation bestimmt. Eine solche entsteht in der Verknüpfung von Wissen und gesellschaftlicher Macht und vermag die Allgegenwart rassistischer Phänomene zu erklären. Findet also in bestimmten, diskursmächtigen Bereichen wie dem Bundestag eine Bedeutungskonstruktion von Fremden als minderwertig, bedrohlich oder auch nur lästig statt, können diese Konstruktionen über die Ideologie Eingang in den Alltagsverstand finden. Rassistische Ideologie stellt damit nicht nur „zweifelhaftes Wissen dar, sie ist zugleich soziale Realität“ (Morgenstern).
Mit dem Zusammenhang von institutionellem und alltäglichem Rassismus beschäftigt sich auch der von Alex Demirovic und Manuela Bojadzijev herausgegebene Sammelband. Eine Begriffsbestimmung und Analyse von Rassismus dürfe, so die HerausgeberInnen, dabei weder zu eng noch zu weit geraten. Zu eng sei die Analyse, wenn Rassismus als Randphänomen ausgemacht und auf rechte Gruppierungen, Parteien, Intellektuelle beschränkt wird oder wenn die Ursachen bei den Marginalisierten gesucht werden, die ihren Hass falsch kanalisierten. Zu weit sei sie, wenn „Fremdenfeindlichkeit“ und Rassismus als Universalien betrachtet werden, also als anthropologische Konstante, soziologische Normalität der Industriegesellschaft oder psychologische innere Fremdheit. Rassismus, so Bojadzijev/ Demirovic, ist „eine Form der sozialen Auseinandersetzung“ und als solche nicht stabil. Es bedarf also der Beobachtung von Konjunkturen des Rassismus. Die gegenwärtig eloquente Form, die die völkisch-nationalistische abzulösen beginnt, ist, und das können die Einzelbeiträge zeigen, der an neoliberale Politiken geknüpfte Rassismus. Durch den Fokus auf die konjunkturellen Schwankungen können die unterschiedlichen Länderbeispiele in dem Band plausibel verknüpft werden. Während Eva Kreisky oder Christian Christen in ihren Beiträgen zu Österreich bzw. zu Italien direkt mit dem politischen Zusammengehen von Neoliberalismus und Rechtspopulismus zu tun haben, bietet sich diese Verbindung in Deutschland nicht. Die Reduktion von Menschen auf rechtlich-bürokratisch bestimmte Exemplare in der europäischen Asylpolitik oder der Integrationsdruck auf MigrantInnen bilden den realpolitischen Hintergrund, vor dem die unterschiedlichen Aufsätze zusammenfgeführt werden.
Am deutschen Beispiel erläutern Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos den Zusammenhang von Markt und Rassismus mit der Metapher vom „Migrationsregime“. Gemeint sind damit alle die Migration strukturierenden und kontrollierenden Praktiken, die im engen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Entwicklungen analysiert werden. Während bis in die frühen 1970er Jahre die fordistische Produktionsweise eine staatliche Regulierung der Einwanderung nach Arbeitsmarktkriterien erforderte, reagiere der Staat in postfordistischen Zeiten lediglich auf die Abkopplung von Angebot und Nachfrage. Rassismus ist in diesem ökonomistischen Modell nur als „die Institutionalisierung der durch die internationale Arbeitsteilung durchgesetzten Hierarchien“ zu verstehen. Eine eigene kulturelle Dimension, wie beispielsweise Etienne Balibar sie aufzeigt, gerät damit nicht in den Blick. Zwar betont auch Balibar die entscheidende Rolle des Staates bei der sozialen Konstruktion von ethnischen Gruppen, betont aber zugleich die Wirkungskraft kultureller Deutungsmuster. Diese lassen sich eben nicht von wirtschaftlichen Gegebenheiten ableiten, sind aber für die Erklärung von Rassismus unabdingbar. Konkretisiert wird diese Notwendigkeit von Jost Müller, der den rassismustheoretischen Blick auf den Alltag einfordert. Ähnlich wie Morgenstern verbindet Müller theoretisch ambitioniert Ideologiekritik, Diskursanalyse und Ideologietheorie und weist die Alltagswelt als umkämpften Ort der Reproduktion aus, in dem zwar die staatlichen Apparate präsent sind, der aber ebenfalls von sozialen Machtverhältnissen durchzogen ist. Um diese Ebenen des Rassismus inklusive seiner permanenten Verschiebung theoretisch einzuholen, scheinen die in beiden Büchern vertretenen Ansätze aus den Disziplinen der kritischen Diskursanalyse und der materialistischen Staats- und Rassismustheorie tatsächlich am besten geeignet. Ein anderer, eher am Rande des wissenschaftlichen Feldes zu verortender Vorzug dieser theoretischen Ansätze ist ihr Selbstverständnis: Rassismus soll hier nicht nur erklärt, sondern auch bekämpft werden. Und dafür ist es unumgänglich, ihn auch so zu nennen.

Alex Demirovic und Manuela Bojadzijev (Hg.): Konjunkturen des Rassismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, 333 S., 24,80 €.Christine Morgenstern: Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland, Argument Verlag, Hamburg 2002, 496 S., 29,90 €.