in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XVIII, Heft 1, Winter 2012, Wien, S. 75.


Juan Torres López, Alberto Garzón, Aitor Romero Ortega, Joel Serafín Almenara, Marcos Roitman, Gerardo Tuduri (Hg.): Hablan los Indignados. Propuestas y Materiales de Trabajo. Editorial Popular: Madrid 2011.

Klaudia Álvarez, Pablo Gallego, Fabio Gándara, Óscar Rivas: Nosotros, los indignados. Las voces comprometidas del #15-M. Ediciones Destino: Barcelona 2011.

Text: Jens Kastner

Fast ein bisschen Stolz schien in der große liberalen Tageszeitung Spaniens, El País, mitzuklingen, als sie in der Sonntagsausgabe nach dem weltweiten Aktionstag am 15. Oktober 2011 auf Seite 1 titelte: „Die Bewegung der Empörten taucht als globale Kraft wieder auf.“ Noch euphorischer hieß es im Innenteil: „Die Sonne erleuchtet die halbe Welt.“ („Sol ilumina medio mundo“) Ein Wortspiel, bei dem die Sonne für die Puerta del Sol steht, den zentralen Platz in Madrid, an dem alles begann. Am 15. Mai dieses Jahres versammelten sich dort unter dem Motto „Reale Demokratie Jetzt!“ Zehntausende meist junger Leute, um gegen die miserable Situation auf dem Arbeitsmarkt und für einen demokratischen Wandel zu demonstrieren. Nach wochenlanger Besetzung des Platzes mit Zelten, Arbeitsgruppen und Plena, machten sich die ProtagonistInnen im Sommer auf in die Provinz und in die Vorstädte, um die Mobilisierung auszuweiten.

Da war das erste Buch zur Bewegung schon erschienen („Hablan los Indignados“, „Hier sprechen die Empörten“), das zweite folgte im Herbst („Nosotros, los indignados“, „Wir, die Empörten“). Beide Bücher versammeln erste politische Einschätzungen und Erfahrungsberichte von „Empörten“, die die Gründe für das relativ plötzliche Aufbegehren nachvollziehbar machen sollen. Während „Hablan los indignados“ noch verschiedene Textsorten – Interview, Analyse, Bericht und sogar eine anwendungsbezogene „kurze Einführung in die Dynamisierung von Versammlungen“ – enthält, beschränkt sich „Nosostros, los indignados“ auf vier Berichte von Beteiligten. Und ein ganze 24 Zeilen langes Vorwort von Stéphane Hessel. Der 94jährige ehemalige Résistance-Kämpfer und französische Ex-Diplomat Hessel hatte mit seinem Büchlein „Empört Euch!“ nicht nur einen gesamteuropäischen Bestseller gelandet, sondern der spanischen Bewegung auch einen Namen gestiftet. Die Bezeichnung „die Empörten“ ist mittlerweile weit geläufiger als das Datum ihres Entstehens, nach dem die Bewegung zunächst benannt worden war („15-M“).

Etwas konkreter als in Hessels allgemeinem Empörungsaufruf kritisieren dann auch die spanischen Empörten die gegenwärtigen Zustände. In Spanien sind rund 45 Prozent der 15- bis 25jährigen arbeitslos, das ist die höchste Quote in Europa – der EU-Durchschnitt liegt in der gleichen Altersklasse bei 20,5 Prozent. Aber absolute Zahlen waren noch nie ausschlaggebend für das Entstehen von sozialen Bewegungen. Immer sind es Relationen, etwa zwischen Erwartungen und Versprechen und ihrer Nicht-Einhaltung. Dass sich hier Kluften auftun, wird vor allem anhand der Berichte der gut ausgebildeten und zugleich prekären 23- bis 39-jährigen ErzählerInnen in „Nosostros, los indignados“ deutlich. Keine VollzeitaktivistInnen kommen hier zu Wort, sondern durch ihre berufliche Situation als Lehrerin, Soundtechniker oder Wirtschaftswissenschaftler frisch politisierte. Die versuchen zwar auch, ihre Erfahrungen zu kontextualisieren. Das gelingt aber in „Hablan los indignados“ von einer deutlich linkeren Position aus. Hier werden auch die europäische Staatsverschuldung, die Stagnation der Lohnentwicklung und die gewerkschaftlichen Kämpfe der letzten Jahre thematisiert.

Die politische Ausrichtung ist, neben der Art von Texten, ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Büchern. Gemeinsamkeiten gibt es aber auch. Gemeinsam haben beide Bücher nicht nur ihren geringen Umfang, der wohl vor allem den frühen Publikationsterminen geschuldet ist. Es sind vor allem zwei Auslassungen, die zu den auffälligsten Überschneidungen gehören. Obwohl an verschiedenen Stellen versucht wird, die Bewegung in historische Zusammenhänge einzuordnen, bleiben diese doch merkwürdig extern: Es ist dann etwa der Neoliberalismus, der einen solchen Rahmen stiftet. Kaum hingegen werden interne, das heißt bewegungseigene Bezüge hergestellt, als hätte es nicht auch in Spanien globalisierungskritische Aktionen gegen eben diese neoliberale Wirtschafts- und Sozialordnung gegeben. Und es muss, bezogen auf die spanische Geschichte, doch zumindest als merkwürdig, wenn nicht auch bitter betrachtet werden, dass eine Bewegung, die mit dem Twitter Hashtag #spanishrevolution Verbreitung fand, mit keinem Gedanken Bezug nimmt auf die andere Spanische Revolution. Und das trotz 75jährigem Jubiläum: Als die Militärs unter General Franco und anderen im Jahr 1936 gegen die Republik putschten, organisierten sich in weiten Teilen Kataloniens und anderen Regionen Spaniens anarchosyndikalistische ArbeiterInnen zu jenem basisdemokratischen Umsturz, den Hans Magnuns Enzensberger einmal als „kurzen Sommer der Anarchie“ beschrieben hatte.

Man kann, politisch betrachtet, nur hoffen, dass solche Geschichtsvergessenheit nicht repräsentativ ist. Und das ist der zweite Punkt: Obwohl in beiden Büchern an vielen Stellen die systematisch mangelnden politischen Repräsentationsmöglichkeiten innerhalb der herrschenden „Parteiokratie“ – dieser Begriff fällt in beiden Publikationen – beklagt wird und gar von einer „Tyrannei der Repräsentation“ (Klaudia Álvarez) die Rede ist, gibt es hinsichtlich der eigenen Bewegung nicht die Spur von Repräsentationskritik. Wo sie anhand der eigenen Organisierungsformen doch geübt wird, geschieht dies weniger in Verteidigung der viel gelobten neuen Aushandlungsformen. Als Vertreter von konstanteren Organisationsformen warnt etwa Aitor Romero Ortega vor einer „Mystifizierung der Versammlung“ und einer „gefährlichen Sakralisierung des Konsenses“. Diese Nicht-Reflektion ist zumindest auffällig, kommen im ersten Buch beispielsweise ausschließlich Männer zu Wort und im zweiten weiß man nicht so recht, warum ausgerechnet diese vier und nicht fünf oder sieben – oder ganz andere.

Gemeinsam sind den  Empörten beider Bücher selbstverständlich auch bestimmte politische Forderungen, die letztlich tatsächlich auch den eingangs erwähnten Aktionstag inklusive Occupy Wall Street-Bewegung beflügelten: Allgemein wird eine „bessere Welt“ mit mehr sozialer Gleichheit und stärkerer demokratischer Partizipation angestrebt. Konkreter wird sich stark gegen die Privatisierungen von Gesundheits-, Erziehungs- und Bankenwesen ausgesprochen, u.a. von Pablo Gallego. Dessen gleichzeitiger Vorschlag für einen „wirklich freien Markt“ dürfte hingegen kaum konsensfähig sein.

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