Halley, Jeffrey A., u. Daglind E. Sonolet (Hg.)Bourdieu in Question. New Directions in French Sociology of Art, Brill Publishers, Leiden/Boston 2018 (456 S., geb., 153.50 €)
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Mit seinen Studien zu Gustave Flaubert und Edouard Manet und der daran herausgearbeiteten Feldanalyse hat Pierre Bourdieu die Kunstsoziologie der letzten drei Jahrzehnte wie kaum ein anderer geprägt. Mit dem Begriff des Feldes bereicherte er die Sozial- und Kulturtheorie um eine analytische Ebene, die zwischen den gesellschaftlichen Strukturen und dem individuellen Handeln liegt. Künstlerinnen und Künstler waren selbst AkteurInnen der Autonomisierung des Feldes, zugleich waren und sind sie in ihrem Tun noch bis in den einzelnen Pinselstrich hinein von diesem Feld strukturiert. Die künstlerische Praxis spiegelt dann nicht länger gesellschaftliche Verhältnisse einfach wider, sondern orientiert sich vornehmlich an den im Feld herrschenden Legitimationsstrategien. Deshalb war Bourdieu, wie die Hg. herausstreichen, geradezu >besessen vom Problem der Legitimität< (6) [alle Übers. J.K.].
Ihr Buch versammelt drei >Generationen< an KritikerInnen von Bourdieus Kunstsoziologie. Zur ersten, den >ZeitgenossInnen<, gehört etwa Howard S. Becker, zur >zweiten Generation< zählen Pierre-Michel Menger und Nathalie Heinich und zur dritten, der >nächsten Generation<, z.B. Cécile Léonardi. Viele der AutorInnen sind außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt - das zu ändern, ist eines der Anliegen des Buches.
Der Bd. vermittelt mit seinen zwei Inhaltsverzeichnissen – eines chronologisch, eines thematisch – zunächst den Eindruck höchster Stringenz und inhaltlicher Geschlossenheit in Bezug auf die Titelfrage: die Infragestellung Bourdieus. Die Lektüre der Texte allerdings widerlegt diesen Eindruck und entzaubert das dicke Buch mit seinem stolzen Preis doch zu einem ganz normalen wissenschaftlichen Sammelband mit all den qualitativen Unterschieden zwischen den Beiträgen und vor allem auch mit all den inhaltlichen Widersprüchen. 
So finden sich neben kompromisslosen Abrechnungen mit Bourdieu auch einige produktive Anschlüsse. Zu ersteren gehört der Text von Jacques Leenhardt, der Bourdieus Unterscheidung von Wissenschaft und Literatur als Strategie interpretiert, das eigene – soziologische – Wissen auf- und die Literatur abzuwerten. Bourdieus Verständnis von Literatur stelle sich als >diskursive Modalität< heraus, >die im Wesentlichen betrügerisch ist< (114). Während Literatur nur täusche und die Realität verstelle, besäße allein die Soziologie die Fähigkeit zu entschleiern. Auch Cécile Léonardi vertritt diese reduktionistische Lesart und behauptet, Bourdieu ordne Soziologie und Literatur dem >alten Dualismus zwischen Wahrheit und Lüge, Illusion und Wissen< (394) zu. Auf dieser Grundlage versucht sie, seinen Anspruch auf Reflexivität zu kritisieren und wirft ihm schließlich vor, in einem soziologistischen Zirkel – >sich um sich selbst drehend< (386) – gefangen zu bleiben. Sicherlich ist es lohnenswert, sich die Wertung der unterschiedlichen Wissensformen und Praktiken des Schreibens in Bourdieus Arbeiten anzusehen. Voraussetzung dafür wäre aber, die vielen positiven Bezugnahmen auf literarisches Schreiben, die es darin gibt – Proust, Flaubert, Virginia Wolf u.a. – nicht einfach auszublenden, wie Leenhardt und Léonardi es tun.
Wesentlich differenzierter führt da schon Nathalie Heinich ihren schon Jahrzehnte währenden Kampf gegen die Bourdieu’sche Theorie. Sie erkennt zwar den Wert seiner Beschreibung der >relativen Autonomie< des Feldes gegenüber marxistischen ebenso wie idealistischen Kunsttheorien an, wirft ihm aber vor, stets zwischen >Ausweitung und Reduktion< zu oszillieren, er setze gewissermaßen immer zu groß und zu klein an: Die Kunstsoziologie Bourdieus sehe das künstlerische Feld bloß im Hinblick auf seine Ausschlüsse und das Kunstwerk als homologe Praxis zu anderen Kunstwerken, subversive Praktiken der AkteurInnen und eigensinnige Aspekte der Werke gingen dabei verloren. KunstfeldakteurInnen ließen sich aber, so Heinich, nicht auf >Distinktionsstrategien< festlegen, künstlerische Arbeiten nicht auf >Positionierungsstrategien< (187).
Hinsichtlich literarischer und künstlerischer Arbeiten teilen viele der Beiträge diesen jahrzehntealten Vorwurf an die Kunstsoziologie, hier etwa in neue Worte gefasst von Clara Lévy und Cherry Schrecker: Bourdieu >lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Produktion und Rezeption von Werken und nicht auf die Werke selbst< (308). Aber dieser Vorwurf verfehlt das Entscheidende. Mit Anbruch der Moderne sind die direkten Einflussnahmen durch Kirche und Adel auf die Kunstproduktion und -rezeption einer strukturellen Abhängigkeit gewichen. Bourdieu beschreibt diesen Prozess als Autonomisierung des Feldes. Mit der relativen Autonomie des Feldes etabliert sich ein spezfischer Kontext für besondere Praktiken: die Produktion und Rezeption von Kunst. Einzelne Werke sind ohne diesen Kontext weder mach- noch lesbar. Die Evidenz dieser Tatsache erweist sich vollends erst im 20. Jahrhundert: Mit dem Einzug von Alltagsgegenständen in das Museum und mit der technischen Reproduzierbarkeit künstlerischer Arbeiten ist aus soziologischer Sicht die materialästhetische Herangehensweise an Kunst obsolet geworden. Ohne ihren spezifischen Kontext sind Kunstproduktion wie -rezeption nicht zu entziffern. Das Feld erzeugt die Kunst ebenso wie deren Wahrnehmung.
Vor diesem Hintergrund wäre – mit Bourdieu – auch den neuen Formen der Rückkehr zum >Kunstwerk selbst< zu begegnen, wie sie im vorliegenden Buch unter der Prämisse eines Handelns der Dinge etwa von Bruno Péquignot vertreten wird: Inhalte, Bedeutungen und Effekte der künstlerischen Arbeit ließen sich nicht allein auf Produktions- und Rezeptionsbedingungen zurückführen, sondern sie sei >ein eigenständiger ^Agent^^ (actant) im Feld der Kunst und Kultur< (146). Während sich mit Heinich u.a. noch produktiv an Bourdieu anschließen lässt, indem die Ambivalenzen des Konsums kultureller Güter stärker in den Vordergrund gerückt werden, kann den wiederkehrenden Plädoyers für eine Rückkehr zum Kunstwerk aus materialistischer Perspektive nur widersprochen werden.

Jens Kastner (Wien)


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