in: ak – analyse & kritik, Hamburg, Nr. 667, 19. Januar 2021, S. 32. 

Gesten gegen Gewalt
Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann plädiert dafür, Körperpolitiken der Undienlichkeit in extremen Gewaltsituationen wahr- und politisch ernstzunehmen

Von Jens Kastner

Es ist streckenweise kaum auszuhalten. Dabei ist es nur Lektüre. Folterungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, die ganz normale Brutalität der Sklaverei wird bei Iris Därmann eindrücklich geschildert. Die Kulturwissenschaftlerin tut dies aber nicht voyeuristisch und auch nicht bloß, um die Ungeheuerlichkeit dieser systematischen Gewalt ein weiteres Mal hervorzuheben. Es geht ihr darum, schreibt Därmann gleich zu Beginn ihrer materialreichen Studie, »Spuren humaner Resistenz« auszugraben und offenzulegen. Gewalt, sei sie noch so brutal und noch so perfide, ist niemals total. Immer haben Menschen versucht, ihrer Vernichtung zu widerstehen. Die Dienstbarmachung der Körper gelang niemals restlos. Um diese Botschaft plausibel zu machen, hat Därmann ganz unterschiedliche Quellen ausgewertet. Zeugnisse ehemals versklavter Afrikaner*innen und Afroamerikaner*innen, aber auch Briefe und andere Dokumente der Sklavenhalter, die sich über Widerspenstigkeit und Widerstand aufregen und über große Fluchtversuche und kleine Verweigerungen mokieren. Gewaltgeschichte, betont die Autorin, ist immer mit einer Geschichte des Ausweichens und des Verweigerns verknüpft. Därmanns Studie ist insofern selbst ein Plädoyer für »eine verkreuzende Gewalt- und Widerstandsforschung«. 
Aber das Buch will und ist noch mehr: Es ist nicht nur auf bisher Übersehenes und Ausgeblendetes angewandte Forschung in der Tradition der Cultural Studies. Mit dem Hinweis darauf, dass hier entscheidende Praktiken ausgeblendet wurden, die zum Verständnis einer Globalgeschichte aber notwendig wären, geht die Frage einher, wie es dazu kommen konnte. Hier kommt die politische Philosophie ins Spiel, die der Realgeschichte der Versklavung ihren diskursgeschichtlichen Rahmen gibt. Dass Aristoteles als Sklavenhalter den Sklav*innen keine konstitutive Rolle in der Entwicklung seiner Theorie einräumte, mag nicht weiter verwundern. Aber warum sprachen selbst Marx und Engels, Hannah Arendt und Jacques Rancière nur vom antiken Griechenland, wenn sie von Sklav*innen sprachen, und nicht über die Maroons in den Amerikas, nicht über die von ehemaligen Sklav*innen gemachte Revolution in Haiti 1804? Und warum maßen sie, die so an Befreiung interessiert waren und sind, weder den großen Aufständen noch den kleinen Akten des Sich-Wehrens eine politische Bedeutung zu? 
Marx und Engels hätten sich in ihren Stellungnahmen zum US-amerikanischen Bürgerkrieg zwar gegen die Sklaverei ausgesprochen. In ihrem Fokus standen aber die europäischen Lohnarbeiter, nicht die Entrechteten in den Kolonien selbst – weder ihr Leiden noch ihr Widerstand. »Unter dem fragwürdigen Vorzeichen proletarischer Exklusivität«, schreibt Därmann, »stießen Marx und Engels die revolutionären Akteure in Saint-Domingue in jene Ort- und Namenlosigkeit zurück, aus der sie sich zwischen 1791 und 1804 unter Berufung auf universale Menschenrechte selbst befreit hatten«. Marx und Engels hätten zudem, analog zu ihrer Gegenüberstellung von revolutionären Proletariern und reaktionärem »Lumpenproletariat«, »weiße« und »schwarze« Sklaverei gegeneinander ausgespielt. Die These, dass es ihnen »um die Zukunft einer nationalen, bestenfalls inter-nationalen, nicht aber um die Zukunft einer multiethnischen, transatlantischen Arbeiterklasse« gegangen sei, ist nicht unplausibel und sollte zu weiteren Diskussionen Anlass geben. Zumal, so Därmann, das »Fabrikregime und die kapitalistische ›Überarbeit‹ als Herzstück moderner Produktivität ... auf den kolonialen Plantagen erfunden worden« seien.

»Kolonialphilosoph« John Locke

Weniger überraschend hingegen sind die Aussagen in den Kapiteln über die Philosophen Thomas Hobbes und John Locke, in denen nachgezeichnet wird, wie die Geschichte der modernen Philosophie ganz direkt in die Geschichte der Sklaverei verwoben war. Damit kommt Därmann hinsichtlich der Philosophiegeschichte zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie vor ihr schon Theoretiker*innen wie der argentinisch-mexikanische Philosoph und Theologe Enrique Dussel und die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Susan Buck-Morss. Jenseits pauschalisierender Anklagen betreibt Därmann eine genaue Lektüre und verortet die Schriften in den sozioökonischen Kontexten derer, die sie verfassten. Dass und inwiefern es berechtigt ist, im Fall Locke von »Kolonialphilosphie« zu sprechen, wird so mehr als deutlich. Denn Locke war nicht nur persönlich Nutznießer des Kolonialismus, sondern reagierte in seinen legitimierenden Schriften auch auf die Widerstandsakte der versklavten Afrikaner*innen und Afro*amerikanerinnen. Die Philosophie, so die These, hat mit Spekulationen über die menschliche Natur nicht nur die Sklaverei diskursiv abgesichert. Ihre eigenen Argumente sind zum Teil Reaktionen auf das, was Därmann das »Sich-Undienlich-Machen« nennt.
Selbst unter Extremsituationen vermeintlich totaler Gewalt wehren sich Menschen gegen ihre Erniedrigung. Sklavinnen widerstanden Vergewaltigungen, Sklavinnen und Sklaven zerstörten Pflüge und anderes Gerät, trieben Kühe und Ochsen in die Kornfelder. Sie schadeten ihren Peinigern und die »Erfahrung der Undienlichkeit« stärkte zugleich den Zusammenhalt untereinander. Därmann beschreibt mit Sabotage, Tänzen, Musikmachen und schlichter Passivität einige solcher Praktiken der Undienlichkeit, die sich auch auf das Nachhinein ausdehnen: Am Beispiel zweier Fotoausstellungen zur Sklaverei lange nach deren Abschaffung, organisiert von Ida B. Wells-Barnett und W.E.B. DuBois, erläutert sie, wie und inwiefern Bilder als Formen »fotografischer Unabhängigkeitserklärungen« verstanden werden können. Fotos von den Lynchmorden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ursprünglich die Zuschauergemeinschaft weißer Rassist*innen vergrößern sollten, wurden durch die Kontextverschiebung zu Beweisen gegen die Täter*innen gemacht.
Nach rund 200 Seiten wechselt das Buch plötzlich das Thema. Ab dem neunten Kapitel meint man ein anderes Werk in der Hand zu haben. Hier bricht die Argumentation ab, statt Kolonialismus steht jetzt der Nationalsozialismus im Mittelpunkt und die Idee der Undienlichkeit wird bestenfalls noch gestreift. Auch diese Kapitel über den Nazi-Staatstheoretiker Carl Schmitt und den Nazi-Philosophen Martin Heidegger sind ebenso eingängige und überzeugende Texte wie die Studie zur Nummerntätowierung in Auschwitz. Ob die NS-Gräuel aber als Fortsetzung oder Brutalisierung, als Bürokratisierung oder Technokratisierung kolonialer Gewalt gefasst werden sollten, wird überhaupt nicht diskutiert. Die zentrale Gemeinsamkeit besteht wohl in der Rolle maßgebender Intellektueller als Legitimator*innen und geistige Pat*innen alltäglichen und systematischen Terrors. Heidegger etwa, zeichnet Därmann detailliert nach, habe »die Vernichtungspolitik des NS-Regimes nicht nur legitimiert, er hat sie als seinsgeschichtliche Unumgänglichkeit gewollt und bejaht«.

Body Politics des Sich-Undienlich-Machens

Angesichts dieser Involviertheiten wird besonders verständlich, wieso Därmann dafür plädiert, die »body politics des Sich-Undienlich-Machens« zum Ausgangspunkt einer Theorie des Politischen zu machen. Es geht darum, die mal verzweifelten, mal stolzen Gesten ernstzunehmen, sie nicht als vor- oder apolitisch abzutun. Selbst unter den allerbrutalsten Verhältnissen der Konzentrationslager würden Menschen nicht zu Tieren oder reinen »Reaktionsbündeln« gemacht, wie Hannah Arendt behauptet hatte. Därmann wirft Arendt wegen dieser Beschreibung sogar vor, das rassistische Vernichtungskalkül der Nazis »restlos zu machen«, also zu bekräftigen und erst total werden zu lassen.
Eine konkrete Möglichkeit, den Terror nicht beschreibend zu verdoppeln, sieht Därmann darin, menschliche Arbeit von der Trauerarbeit aus zu denken. Sie versteht unter Trauerarbeit jenen Aspekt von Arbeit, der nicht nur der Selbsterhaltung, sondern »dem Fremderhalt eines anderen sterblichen Wesens« dient. Durch Arbeit wird der Tod anderer aufgeschoben. Trauer ist demnach nicht nur passives Bedauern, sondern sie wird als eine Art grundlegende Fürsorge verstanden, die anderen zugutekommt. Ein solches Verständnis von Arbeit ist das Gegenmodell zum Arbeitsbegriff von Locke, aber auch von Carl Schmitt und von Heidegger. Sie konzipierten Arbeit als Effekt eines Verhältnisses von Befehl und Gehorsam und begründeten somit soziale Ungleichheit bis hin zur Idee der »Auslese«. In dem Plädoyer gegen dieses destruktive, rassistische Verständnis von Arbeit und für die Trauerarbeit kann zumindest einer der roten Fäden gesehen werden, die die verschiedenen Texte des Buches miteinander verbinden. 
Dass das Buch keine Monografie, sondern eine Sammlung von Aufsätzen ist, die mehr oder weniger gut zusammenpassen, lässt sich als Vor- und als Nachteil lesen. Vermisst man einerseits die Weiterführung einer Widerstandsgeschichte gegen Kolonialismus und Sklaverei, trifft man andererseits auf eine erschreckende Vielfalt von politischer Philosophie, die Gewalt legitimiert und Widerstand unsichtbar macht. Indem sie diesem Widerstand, den alltäglichen und oft passiven Weigerungen nachgeht und das vermeintlich Nebensächliche und das Ausgeblendete in den Fokus rückt, hat Därmann vorgeführt, wie die von ihr geforderte Verschränkung von kulturwissenschaftlicher Gewalt- und Widerstandsgeschichte im Detail aussehen könnte. Es gibt dabei viele Momente, in denen die Gewaltexzesse der Sklavenhalter eine/n als Leser*in ebenso fassungslos zurücklassen wie etwa Heideggers Rechtfertigungen des Nazi-Terrors. Beinahe tröstlich erscheinen dann die subtilen Akte der Undienlichkeit, die der massiven Peinigung abgerungen wurden. Es ist nur Lektüre, aber sie lohnt sich unbedingt, weil sie vermittelt: Kämpfen lohnt sich und genaues Hinsehen lohnt sich, um den nicht immer erkennbaren Widerstandspraktiken in aussichtsloser Lage zu ihrem Recht zu verhelfen. 


Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin 2020, Verlag Matthes & Seitz.


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