in: ak – analyse & kritik, Hamburg, Nr.473, 16. Mai 2003, S.27.

„Cultural Studies“ als kontroverses Projekt
Ein Sammelband diskutiert Potenziale und Perspektiven kritischer Kulturwissenschaft

Eine Methodenvielfalt, eine Interdisziplinarität, ein Positionengewirr – all das sind Cultural Studies (CS). So sehen es auch die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, die  „die Kontroverse“ als elementaren Bestandteil des Projekts CS vorstellen . Was andererseits nicht heißt, dass die in diesem Projekt verhandelten Themen beliebig wären. Denn inhaltlich steht nicht weniger als der Zusammenhang von Macht, Politik und Kultur auf dem Plan.

Wie die Kontroverse als Denkform verstanden werden kann, zeigt der Band auf zwei Weisen. Einerseits werden zentrale Texte der Cultural-Studies-Debatte aus den letzten zehn Jahren neu veröffentlicht. Damit werden Schlüsselprobleme in Erinnerung gerufen und erneut zur Diskussion gestellt, wie z.B. Stuart Halls theoriehistorische Rekonstruktion der Cultural Studies-Geschichte. Hall hatte in seinem Aufsatz von 1990 auf dem ursprünglichen und unmittelbar politischen Anliegen der CS bestanden, den Menschen über ein theoretisches Verständnis der veränderten gesellschaftlichen Situation auch Überlebensstrategien und praktische Widerstandsmöglichkeiten zu vermitteln. Ganz anders widmet sich  ein zentraler Text von  Ien Ang aus dem Jahr 1996 dem „Scheitern der Kommunikation“ als charakteristisches Merkmal einer „kapitalistischen Postmoderne“. Die direkte Wirkung von Theorie auf den Alltag – nicht unbedingt jedoch die Widerständigkeit der Alltagskultur selbst – muss demzufolge wesentlich skeptischer eingeschätzt werden. Die von Ang geäußerten, fundamentalen Zweifel an der Möglichkeit zielgerichteter Kommunikation  treffen somit auch die CS selbst: Diese könnten nun, angesichts der mit gesellschaftlichen Veränderungen gewandelten Kommunikationsbedingungen, bestenfalls unabgeschlossene, ambivalente Wahrheiten formulieren. Dieses selbstreflexive Befragen der eigenen theoretischen Möglichkeiten ist, nebenbei gesagt, typisch für die CS und gerade das macht sie immer wieder interessant.
Im zweiten Teil des Buches werden andererseits neue, hier erstmals veröffentlichte Texte zugänglich gemacht, die die Debatte weiterführen. Die Herausgeber benennen dafür sieben, sich gegenseitig überlappende Diskussionsfelder – Materialität, Bildung, Kritik, Alltags- und Populärkultur, Medien, Globalisierung und transkulturelle Kommunikation –, auf denen die CS die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen beflügelt haben: eine schöne Übersicht und neue Systematisierung, die es gleichwohl zu konkretisieren gilt.
In diesem Sinne plädiert Colin Mercer in puncto Materialität dafür, die „gouvernementale Funktion“ von Alltagskultur zu erforschen, d. h. zu untersuchen, mittels welcher alltagskultureller Praktiken sich Individuen aktiv in gesellschaftliche Machtverhältnisse einschreiben. Foucault hat diesen zur Zeit in theoretischen Debatten sehr angesagten Begriff der Gouvernementalität geprägt, um auf einen Zusammenhang von regieren („gouverner“) und Denkweisen („mentalité) aufmerksam zu machen. Die von Mercer gestellte Frage hebt also – im Anschluss an Foucault – auf die Einbezogenheit der/des Einzelnen in kulturelle Technologien zur Gestaltung und Formung von Bevölkerungen ab und grenzt sich damit von einem bloß ästhetischen Kulturbegriff ab. Kultur erweist sich aus dieser Perspektive als verstrickt in Machtverhältnisse und gerade nicht als ihr möglicherweise widerständiges Gegenüber. Ausgeführt wird dieser Gedanke am Beispiel der Geschichte von Zeitungen, die über ihre Einsprachigkeit und regionale Begrenzung zur Etablierung nationaler Identitäten beitragen: Die deutsche Zeitung im Urlaub, und ich weiß wieder, wo ich hingehöre.
Auch Ang glaubt nicht daran, dass die Leute in ihrem Alltagsverhalten immer schon tendenziell der Macht zuwider handeln, auch wenn dieser Glaube die Debatte der CS über viele Jahre – und bis heute - dominiert. Ironischerweise aber droht jetzt, das zeigt der Sammelband, ausgerechnet durch das Einbeziehen von Foucaults Gouvernementalitätsansatz, der ja Herrschaft durchschaubarer machen sollte, wiederum Entscheidendes vernachlässigt zu werden: die staatliche Kontrolle über die materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen. Dieses Manko tritt aber keineswegs erst mit Foucault auf, sondern lässt sich auch schon als grundlegende Kritik an der Alltagskultur-als-Widerstand-These und damit an bestimmten Strömungen innerhalb der Cultural Studies anbringen.  Anders gesagt: eine zu enge Perspektive auf alltagskulturelle Praktiken, ob diese nun als widerständig oder als herrschaftsförmig gedeutet werden, läuft zwangsläufig Gefahr, die Macht des Staates zu vernachlässigen.
Selbst John Storey, der sich auf Gramsci beruft und zunächst mit Bourdieu erklärt, Macht möge zwar letztinstanzlich ökonomisch bedingt sein, werde aber kulturell gelebt , tendiert zu dieser Vernachlässigung. Zwar insistiert er mit Gramsci auf einer Dialektik „zwischen den Prozessen der Produktion und den Aktivitäten der Konsumtion“. Bei der Betonung der individuellen und kollektiven Aneignungspraktiken aber lässt Storey Fragen der Hegemoniebildung außer Acht: Wie werden individuelle Handlungen vorgeprägt? Auf welche Muster greifen wir bei Alltagsentscheidungen zurück? Welche Normen werden wie gestaltet und durch wen wie verinnerlicht?
Auch wenn sie auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten liefern, sind doch jene AutorInnen innerhalb der Cultural Studies, die sich wie Mercer oder Storey auf Bourdieu oder Gramsci beziehen, sicherlich aus materialistischer Sicht am Interessantesten. Denn bei ihnen verflüssigen sich soziale Verhältnisse nicht und sind auch nicht, wie bei Ien Ang, nur noch als „chaotisches System“ zu begreifen. Dem vorliegenden Sammelband gelingt es, eine gewisse Bandbreite der theoretischen Möglichkeiten abzubilden; gleichwohl neigt er dazu, die CS mit dem Hinweis auf ihre heterogene Form gegen kritische Einwände abdichten zu wollen. Gerade deshalb ist es wichtig, politische und theoretische Schwachpunkte der CS konkret zu benennen. Und sofern sie eben an den verschiedenen Produktionsverhältnissen von Macht ansetzt, wäre eine materialistische und staatskritische Haltung „den“ Cultural Studies gegenüber dann nicht wirklich eine Kritik „von Gegenüber“, sondern eine Kritik in eigener Sache.

Jens Petz Kastner

Hepp, Andreas und Carsten Winter (Hg.): Die Cultural Studies Kontroverse, Lüneburg 2003 (zu Klampen Verlag), 233 S., 19,- Euro.


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