in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Band XI, Heft 3, Herbst 2005, S. 72-73.

Fanizadeh, Andreas und Eva-Christina Meier (Hg.): Chile International. Kunst Existenz Multitude, Berlin 2005, mit Abbildungen, Texte auf Deutsch und Spanisch, ID Verlag, 175S.14,80 €.

Jens Kastner

Als 1990 mit der Abwahl General Pinochets die wohl bekannteste Militärdiktatur Lateinamerikas zu Ende ging, schienen die Zeichen für den gesamten Kontinent auf Demokratisierung zu stehen. In Chile hatte das Militär 1973 geputscht und später unter maßgeblicher Beteiligung von Wirtschaftswissenschaftlern aus Chicago den Neoliberalismus eingeführt. Nun ist seit fünfzehn Jahren „Übergang“. Was darunter zu verstehen und wie er zu bewerten ist, darüber herrscht Uneinigkeit. Seit dem Abgang des Diktators regiert das demokratische Lager aus Sozial- und Christdemokraten, Concertación genannt. Die von den so genannten „Chicago Boys“ eingeführten Politiken aber wurden keineswegs geschasst, und zwar nicht zuletzt aus Angst vor der Oligarchie und der diktaturfreundlichen Hälfte der Bevölkerung.

Gespalten präsentiert sich die Gesellschaft aber nicht nur auf der Ebene parlamentarischer Repräsentation. Auch die AutorInnen des Bandes über das zeitgenössische Kunstgeschehen sind sich nicht einig: Während sich Guillermo Cifuentes in seinem Galerien-Rundgang darüber freut, dass „die politische Macht seit der Rückkehr zur Demokratie in den Händen der fortschrittlichen Kräfte“ befände, konstatiert Jorge Calbucura alles andere als Freude und Progress. „Aus der Sicht der Menschenrechte und des internationalen Rechts“, schreibt der Soziologe und Mapuche-Aktivist, „lässt sich davon sprechen, dass der chilenische Staat eine Praxis des Völkermordes gegen die Nation der Mapuche verfolgt.“ Während sich in der Mittelschicht eine lebendige, künstlerische Szene herausbildet, die im Vorwort subkulturell genannt wird und um die sich das Buch hauptsächlich dreht, bleibt die Situation für die (ethnischen) Minderheiten offenbar lebensbedrohlich. In beiden prekären Lebenslagen aber haben kulturelle Kämpfe an Bedeutung gewonnen.

Ob die gemeinschaftliche Organisation von Lebensverhältnissen einzig von der Diktatur platt gemacht wurde oder ob sie nicht ohnehin mit den modernistischen Träumen habe untergehen müssen, beantwortet der Band nicht eindeutig. Die Farbfotostrecke von Eva-Christina Meier („Die Ressourcen verkaufen, die Geschichte vergessen“) knüpft mit tristen Wohnanlagen in bunt an den staatlichen Utopien aus vordiktatorischen Zeiten an und lässt sie im nicht weniger farbenfrohen, öffentlichen Schwimmbad vor dem Gegenwartspanorama einer Müllhalde und der Anden enden. Ein zentraler Satz lässt sich in dieser Hinsicht auch in der schönen Beschreibung der modernistischen Gemeinde-Architekturen von Álvaro Peralta Sáinz finden: „Die Gemeinschaftsflächen liegen brach.“

Demgegenüber handeln aber die beiden von den HerausgeberInnen geführten Gespräche von selbst organisierten Kunsträumen in der Hauptstadt Santiago. Dass das Nischendasein der KünstlerInnen ihren gesellschaftlich-politischen Ansprüchen dabei oft nicht entspricht und letztere durch Finanznöte zusätzlich untergraben, weil von Kompromissen gebeugt werden – eine originär lateinamerikanische oder chilenische Problematik scheint das nicht zu sein. Spezifischer ist da schon der persönliche Rückblick auf die in den 1970er Jahren aktive Künstlergruppe „Colectivo Acciones de Arte“, auch wenn deren geistreich abgekürzter Name – „cada“ bedeutet jede/r – anderes verspricht. Unter den Bedingungen der Diktatur das Städtische in eine Metapher verwandeln zu wollen, unterschied sich eben doch von der Kunstproduktion in Zeiten der „Verpflichtung zum Konsens“, wie Ex-CADA-Mitglied Diamela Eltit betont. Und dennoch schließt jene, das lässt sich dank des Buchkonzeptes erkennen, eben nicht nur an westeuropäische Debatten, sondern ganz wesentlich auch an Praktiken aus der Geschichte vor Ort an.

Auch die im Band enthaltenen Aufsätze von Juliane Rebentisch und Toni Negri sind hervorragende Texte, wenn allerdings die Gründe für ihre Publikation darin weniger hervorstechen. Mit keinem Wort wird in beiden auf die Situation in Chile oder andere im Buch verhandelte Themen eingegangen. Ebenso schleierhaft bleibt der Abdruck zweier Gedichte von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, die als Songs sicher nicht schlecht klingen würden. Hier sollen sie wohl – Lowtzow schreibt ja für die Berliner Zeitschrift Texte zur Kunst – den Anschluss an den westeuropäischen Kunstdiskurs symbolisieren. Naja. Fragen nach dem Unterschied zwischen dokumentarischen und ästhetischen Bildern (Rebentisch) und den Subjektivitäten in Zeiten des Krieges (Negri) lassen sich natürlich auch als Teil der Auseinandersetzung um einen weiten Begriff von Demokratisierung lesen. Dann ist der gewagte Text- und Bildsortenmix des Bandes nur in hohen Tönen zu loben.


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