in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Heft 2, Frühjahr 2020, S. 76.

Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.

Text: Jens Kastner


Im Rahmen und in Folge der Revolten der „1968er Jahre“ kam es zu einer vehementen Infragestellung der kapitalistischen Markwirtschaft. ArbeiterInnen wehrten sich gegen Disziplin und Kontrolle, börsennotierte Unternehmen wurden auf ihren Nutzen fürs Gemeinwohl hin befragt, und die zu neuer Macht gekommene Managerkaste war einem doppelten Legitimierungsdruck von Seiten sozialer Bewegungen einerseits und der AktionärInnen andererseits ausgesetzt. Eine umfassende Regierungskrise war entstanden. Regierung verstanden nicht nur als Leitung des Staates, sondern als Führung der Gesellschaft insgesamt. Darauf mussten die Herrschenden reagieren, und ihre Reaktion fiel mit der neoliberalen Wende bekanntlich gründlich aus.

Nun ist seine Geschichte schon häufig beschrieben worden, auch wenn er noch längst nicht Geschichte ist: der Neoliberalismus. David Harvey hat die politisch-ökonomischen Strukturen seiner Entstehung herausgearbeitet, Dieter Plehwe und Bernhard Walpen haben ihn als langangelegtes und durch Think Tanks verbreitetes Projekt verschiedener Ökonomen und Journalisten beschrieben, und Keith Dixon hat mit der Durchsetzung Margaret Thatchers unter den Konservativen und den Kontinuitäten zur Regierungszeit Anthony Blairs die Flexibilität der politischen Bündnisse der Neoliberalen aufgezeigt. Und nicht zuletzt haben Eve Chiapello und Luc Boltanski das Entstehen des neoliberalen Geistes auf die Kooptation von Forderungen und Einstellungsmustern (Mobilität, Kreativität, Autonomie) aus den künstlerischen Milieus zurückgeführt.

Grégoire Chamayou ergänzt all diese Geschichten um eine weitere Perspektive und widerspricht dabei implizit vor allem der letztgenannten, im Kunstfeld doch sehr einflussreichen These von Boltanski und Chiapello vehement. Es ist eine Zeitdiagnose, die zugleich eine Philosophie des Unternehmens, „‚Geschichte von oben‘, geschrieben aus der Sicht der herrschenden Klassen“ ist. Und diese Klassen kommen ausführlich zu Wort, das Buch strotzt vor Zitaten aus Unternehmer-Handbüchern, Wall Street Journal-Artikeln, Reden, Aufsätzen und Büchern konservativer, neoklassischer und neoliberaler Ökonomen. Dabei zeigt sich vor allem eins: Der Aufstieg des autoritären Liberalismus war umkämpft. Verschiedenste Strategien wurden angedacht und umgesetzt, Disziplinierung gegen Beteiligung von Angestellten ausgespielt, offene Propaganda gegen geheime Strategiepläne abgewogen und Definitionen umgeschrieben (wer die Bedeutung von Worten festlegt, „verschafft sich einen strategischen Trumpf“). Während der Managerialismus das Unternehmen als sozial verantwortliche Quasi-Regierung positionierte, richteten sich die Neoliberalen vehement gegen die Politisierung. Sie arbeiteten gezielt daran, dass Unternehmen „konzeptuell zu reprivatisieren“. Denn ohne Gemeinwohlanspruch auch keine Möglichkeit, an diesem Anspruch gemessen zu werden. 

Es galt, schreibt Chamayou, „die Kontrolle über das geistig Sagbare zu sichern“. Nach verschiedenen strategischen Anläufen setzte sich schließlich das durch, was Chamayou die „Entthronung der Politik“ nennt. Der Staat soll sich nicht länger bloß aus der Regulierung der Wirtschaft heraushalten, sondern selbst von der Ökonomie regulieren lassen. Den Begriff des „autoritären Liberalismus“ leiht sich Chamayou dafür vom sozialdemokratischen Juristen Hermann Heller, der ihn für eine solche sich anbahnende Konstellation schon 1933 gebrauchte. Durchgesetzt wird er mit einem Diskurs der Entpolitisierung einerseits und konkreten Verfassungsänderungen andererseits. Entmachtet werden damit der keynesianische Staat und die sozialen Bewegungen gleichermaßen, die von den Neoliberalen übrigens beide – anders als heute in der Debatte um Identitätspolitiken und im Anschluss an Boltanski/Chiapello oft behauptet – klar als Gegner begriffen wurden. Von ihnen gingen, aus neoliberaler Sicht, die Gefahren der Ausweitung der demokratischen Kontrolle und einer Regulierung der Ökonomie aus. Die Gefahr wurde gebannt. Denn dass die Durchsetzung des autoritären Liberalismus nicht nur eine Diskursgeschichte war, wird dann spätestens im zweiten Teil des Buches deutlich, in dem die Anwendung der frisch entwickelten Doktrin stärker im Fokus steht. Die Anhänger Milton Friedmans setzen ihr Programm im diktatorisch regierten Chile durch, und auch zu Friedrich August von Hayek findet Chamayou klare Worte. Fast jedes Mal, „wenn sich die historische Situation ergab, dass […] ein diktatorisches Regime an die Macht gelangte, eilte er herbei, um es mit seinen Ratschlägen einzudecken.“ Aber die Genealogie geht nicht nur bis zu den 1970er Jahren, sondern sie reicht mit ihren Privatisierungs-, Deregulierungs- und Austeritätspolitiken bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Chamayou weist nicht nur die rein taktische, letztlich feindliche Haltung der Neoliberalen zur Demokratie nach. Sondern er zeigt anhand des Umgangs von Protagonisten der Wirtschaft mit Umweltfragen seit den frühen 1970er Jahren auch: „Der Neoliberalismus ist von Grund auf antiökologisch.“ 
Chamayous Buch ist ohne Zweifel eine der instruktivsten Studien zur neoliberalen Konterrevolution überhaupt und trägt damit nicht wenig dazu bei, die sozioökonomische Gegenwart besser zu verstehen.


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