in: Lateinamerika Analysen, Heft 18, Hamburg, 3/2007, Herausgegeben vom German Institute for Global and Area Studies/ Institute for Latin America Studies (GIGA), S. 244-245.

Luis Camnitzer: Conceptualism in Latin American Art: Didactics of Liberation, Austin, TX 2007 (Texas University Press), 347 S., 21,50 Euro, ISBN-13: 978-0292716292.


Auf einem Schwarzweißfoto von Anfang der 1980er Jahre sind einige Personen hinter einem Transparent mit der Aufschrift „no + miedo“ zu sehen. Ein Spiel mit Wort und Zeichen, denn hier ist keinesfalls wörtlich „Nein und Angst“ zu lesen. Das Additionssymbol bedeutet im Spanischen auch „mehr“. Im Chile der Pinochet-Diktatur konnte die Aufforderung, keine Angst mehr zu haben, schon einige Sprengkraft entfalten. Vor sich her getragen wurde sie hier von der Künstlergruppe „Colectivo Acciones de Arte“, die sich sinnreich CADA abkürzte – was so viel bedeutet wie „jede/r“. Damit sind auch schon wesentliche Bezugspunkte der Geschichte konzeptueller Kunst aus Lateinamerika genannt. Semiotische Untersuchungen, Aktionen auf der Straße, Konfrontation mit der politischen Macht, Einbeziehung des Publikums. Die Worte werden als politisches Werkzeug eingesetzt und die Sprengkraft ist bei Camnitzer wörtlich zu nehmen: Camnitzer, selbst einer der wichtigsten Konzeptkünstler Lateinamerikas und nicht Kunsthistoriker, scheut nicht davor zurück, die Geschichte der zeitgenössischen Kunst seit den späten 1950er Jahren direkt an die Entwicklung militanter sozialer Bewegungen zu knüpfen. Das ist insofern ungewöhnlich, als die politischen Implikationen meist eher als Nebeneffekt jener Kunst gelten, für die die Idee, also das Konzept, wichtiger ist als ihre Materialisierung im Werk. Neben einer kritisch-analytischen Haltung den Institutionen des Kunstfeldes gegenüber, gilt die Dematerialisierung daher auch als Hauptmerkmal konzeptueller künstlerischer Ansätze.

Dass die Schwerpunkte in Lateinamerika ein wenig anders lagen als in den USA und in Großbritannien, wo bis vor einigen Jahren die HauptakteurInnen der Konzeptkunst ausgemacht wurden, ist der interessierten Öffentlichkeit spätestens seit 1999 bekannt. Die Ausstellung „Global Conceptualism“ im Queen Museum of Art, New York, an der auch Camnitzer als Kurator beteiligt war, verschob damals die kunsthistorischen Blickwinkel vom Zentrum auf die vielen Peripherien. Dabei zeigte sich u. a., dass in Lateinamerika die Entwicklungen, die avantgardistische KünstlerInnen in den 1960er Jahre nahmen, nicht ohne die allgemeinen politischen Hintergründe und die konkreten Überlappungen mit sozialen Bewegungen zu denken waren. Man müsse den Pfad der Kunstgeschichte verlassen, schreibt Camnitzer jetzt, um zu verstehen „how important utopian thinking was in the development of Latin American conceptualism.“ (16)

Camnitzer systematisiert nun diese Geschichte und führt sie erstmals ausführlich aus. Dabei widmet er der Stadtguerillabewegung Tupamaros in Uruguay ein eigenes Kapitel. Sie sei zwar keine künstlerische Formation gewesen, habe sich aber weitest möglicht dem Kunstfeld angenähert. Und zwar, indem sie „a pedagogical process of image building“ (46) in Gang gesetzt und es in ihren Aktionen darauf abgesehen hätte, einen „lasting effect on the memory of the public“ (47) zu erzielen. Zudem nutzten die Tupamaros den urbanen Raum als eine Art Theaterbühne. Auf der anderen Seite waren künstlerische Gruppierungen so nahe es eben ging an die Praktiken politischer Kämpfe herangekommen. Camnitzer nennt als Beispiel die Gruppe Tucumán Arde aus Argentinien, die mit Gewerkschaften zusammenarbeitete und die soziale Misere in der armen Provinz Tucumán thematisierte. Nachdem sie auf der vergangenen Documenta vor allem hinsichtlich ihrer formalen Qualitäten präsentiert wurden, ist es nur als Verdienst zu werten, künstlerische Projekte wie Tucumán Arde oder auch einzelne Positionen wie die von Lotty Rosenfeld, Mitglied der CADA-Gruppe, wieder in ein angemessen politisches Licht zu rücken. Plausibel beschreibt Camnitzer, dass sich der Konzeptualismus in Lateinamerika als eine Ästhetik „more concerned with reality than with abstraction“ (72) entwickelt habe.

Neben der explizit politischen Ausrichtung ist auch der starke Fokus, den Camnitzer auf den Bildungsaspekt der Kunst setzt, ungewöhnlich. Er diskutiert dabei die vielen Fallstricke, die dem Anspruch erwachsen, Kunst für alle zu machen und doch nie alle zum Kunstmachen ermächtigen zu können. Ein Strang dieser Diskussion ist die Auseinandersetzung mit der Mexikanischen Wandmalerei (Muralismus), deren Anspruch auf Zugänglichkeit radikalisiert wurde. Einerseits bezogen die KonzeptkünstlerInnen der 1960er und 1970er Jahre die BetrachterInnen in den Schaffensprozess mit ein, andererseits ließen sie ihnen, anders als die großen Muralisten, aber auch die Wahl, sich mit der Kunst zu beschäftigen (man muss der Kunst auch entkommen können!). Die mexikanischen Kunst-Kollektive der 1970er Jahre hebt Camnitzer vor allem im Hinblick auf deren pan-amerikanisches Engagement hervor. Eine frühe Transnationalisierung, die den kunsthistorisch nachzuzeichnenden Einfluss durch bestimmte Werke in eine politische Frage der Solidarität transformierte und einzelne KünstlerInnen aus Mexiko in die Reihen der Sandinistas in Nikaragua verschlug. Einen anderen Strang der didaktischen Auseinandersetzung entwickelt Camnitzer entlang der Schriften des venezolanischen Philosophen Simón Rodríguez (1769-1854). Die Bedeutung des Humanisten und Lehrers von Simón Bolívar (1783-1830), dem „Befreier“, ist in Europa weithin unbekannt. Dass die Effekte seiner Lehren nicht nur in der Bolivarianischen Revolution des gegenwärtigen Venezuela auszumachen sind, sondern auch innerhalb der konzeptuellen Kunst, wird daher überraschen. Besonders ein Gedanke von Rodríguez hat es Camnitzer angetan: Sich mit den Dingen zu beschäftigen, sei die erste Aufgabe der Erziehung. Mit denen, die sie besitzen, die zweite. Ein guter Ausgangspunkt für eine materialistische Kunstgeschichte ist das alle mal. Ob sie den verborgenen Kern der Konzeptkunst ausmacht oder ob dies doch der Dematerialisierung des Kunstwerks vorbehalten bleibt, darüber kann nun weiter und ohne Angst verhandelt werden.

Jens Kastner, Wien


Mehr zum Thema Konzeptuelle Kunst in Lateinamerika:

Luis Camnitzer. Daros Exhibitions, Zürich, 11. März bis 4. Juli 2010.
in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Wien, Band XVI, Heft 2, Frühjahr 2010, S. 73.
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in: Kultur & Gespenster, Heft 4, Hamburg, Frühjahr 2007, S. 244-254.
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