in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Band XXI, Heft 3, Wien, Sommer 2015, S. 72.

Zygmunt Bauman: Retten uns die Reichen? Freiburg/ Basel/ Wien 2015, Herder Verlag.

Text: Jens Kastner


Der Geschäftsführer einer Firma verdiente 1974 in den USA das 35-fache eines durchschnittlichen Firmenarbeiters. Bis ins Jahr 2000 schnellte dieses Verhältnis auf das 531-fache hinauf. Zur gleichen Zeit, also um die Jahrtausendwende, verbrauchen etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung 86 Prozent aller Güter und Dienstleistungen der Welt. Und schon bevor diese Ungleichheitsspirale in schwindelnde Höhen gedreht wurde, war die Wahrscheinlichkeit 27 Mal größer, dass der Sohn eines Anwaltes mit 40 zu den reichsten 10 Prozent seines Landes gehören würde als der Sohn eines niederen Beamten, neben dem er die Schulbank gedrückt hatte, bei gleicher Intelligenz, gleichen Fähigkeiten und gleichem Engagement. Das war um 1980. Dass seitdem alles nur noch schlimmer, d.h. ungerechter geworden ist, daran lässt der Soziologe Zygmunt Bauman, der in seinem aktuellen Buch Fakten wie die genannten zusammenträgt, keinen Zweifel. Der Neoliberalismus setzte sich zu dieser Zeit erst gerade durch.

Bauman war vor allem mit seiner soziologischen Auseinandersetzung mit der Shoah im Rahmen seiner Moderne-Kritik auch außerhalb seiner Fachdisziplin bekannt geworden. In den 1990er Jahren hatte er sich dann in zahlreichen Veröffentlichungen der Postmoderne gewidmet – als gesellschaftliche Formation ebenso verstanden wie als sozialtheoretisch-philosophisches Denken. Etwa seit Beginn des neuen Jahrtausend spricht er von der Gegenwart als „flüchtiger Moderne“. Dieses zeitdiagnostische Label bezieht sich vor allem auf verloren gegangene mentale Gewissheiten und materielle Sicherheiten.

Mit politischen Positionierungen hielt der Soziologe sich häufig eher zurück. Ganz anders im neuen Buch. Es liest sich, als wollte der knapp 90jährige zu guter Letzt doch noch einmal alle Ambivalenz beiseite lassen, wenn er die zentralen ökonomischen Dogmen der Gegenwart klar als „Lügen beziehungsweise gravierende Irrtümer“ beschreibt: allen voran die Aussage, es würden letztlich alle profitieren, wenn die Reichen reicher würden. Dass dies so sei, wurde bereits in den Jahren Ronald Reagans als US-Präsident behauptet (und als Trickle Down-Effekt bezeichnet). Nicht nur, dass es auf finanzieller Ebene keine Belege für diese Behauptung gibt. Unbedingtes Wirtschaftswachstum habe stattdessen nicht nur zu einer immer ungleicheren Verteilung der Einkommen geführt. Es habe, so Bauman, auch soziale Folgen und bedeute für die meisten Menschen „einen enormen Verlust an Sozialprestige und Selbstachtung“.

Neben dem Wachstumsdogma richtet sich Baumans Schrift auch noch gegen die Behauptung, der Weg zum Glück bestehe im Einkaufen, d.h. im beschleunigten Kreislauf neuer Konsumgüter. Vor allem mit der Widerlegung dieser Vorstellung knüpft Bauman auch an frühere eigene Arbeiten wie „Leben als Konsum“ (2009) an. Hier argumentiert er ähnlich der frühen Kritischen Theorie damit, dass es sich bei der konsumorientierten Bedrüfnisbefriedigung einerseits um eine nur kurzzeitige und andererseits um eine ohnehin scheinbare, wirkliches Glück eher verhindernde halte. Dass das alles das Natürlichste der Welt und nicht vom Menschen gemacht sei, ist die dritte kritisierte Ausage. Diese Kritik an der Naturalisierung des Sozialen teilt er letztlich mit allen kritischen Sozialtheorien. Die vierte Lüge, die Bauman sich zu entlarven vorgenommen hat, ist die Behauptung, Konkurrenz führe zu mehr Gerechtigkeit. Dem setzt er ganz offen normativ „menschliche Solidarität und kameradschaftliche Zusammenarbeit“ entgegen.

Letztlich konzentriert sich Bauman in der schmalen Schrift aber ganz auf die selbst gestellte, ideologiekritische Aufgabe. Einerseits bleiben dadurch etwa Seitenhiebe gegen die „kulturelle Linke“ und den Multikulturalismus aus. Gegen sie hatte Bauman in seinem Buch „Gemeinschaft“ (2009, Orig. 2001) noch schwere – und in ihrer Allgemeinheit kaum zu haltende – Vorwürfe erhoben: Kulturlinke würden die häßliche soziale Ungleichheit als „ästhetische Schönheit der kulturellen Vielfalt“ verkaufen und sie durch diese Kulturalsierung letztlich vertiefen. Andererseits gerät aber auch die Behandlung der soziologisch eigentlich interessanten Frage etwas kurz, wie das Ansteigen der sozialen Ungleichheit sich so relativ konstant bewerkstelligen lässt. Ganze neun Seiten umfasst das Kapitel mit der Überschrift „Warum finden wir uns damit ab?“ Die wichtigste Antwort könnte von Pierre Bourdieu stammen: weil es unhinterfragte Überzeugungen, eine doxa
gibt.

Hoffnung macht ihm die angeblich großteils geteilte Zustimmung zu Werten wie „Gleichheit, gegenseitigen Respekt, Solidarität und Freundschaft“. Die Worte sieht er allerdings durch eine Kluft von den Taten getrennt, nämlich milieuübergreifend anzutreffendem konkurrenz- und privelgienorientiertem Verhalten. Deshalb plädiert er auch für eine „Veränderung unserer Lebensgewohnheiten“
, um der sozialen Ungleichheit zu begegnen. Wie in vielen seiner anderen Bücher, ist aber auch hier die Verallgemeinerung problematisch – und analytisch wie politisch letztlich unbefriedigend: Warum sollten „wir“ alle unser Leben ändern, wenn doch nur die aller Wenigsten wirklich profitieren? Sollen wir gar Solidarität als Trickle Up-Verhalten denken, das irgendwann auch nach oben raufsickert? Forderung und Analyse bleiben schließlich unvermittelt.


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