in: graswurzelrevolution, Münster, Nr.273, November 2002.
 

Biopolitik, das nackte Leben und der Staat
Giorgio Agambens „Homo sacer“

Nichts sei heute notwendiger als eine Revision des Begriffs der Sicherheit als Leitgedanken staatlicher Politik, schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben kurz nach den Anschlägen vom 11.September 2001 in der FAZ[1]. Was damit vordergründig als Kritik an den politischen Entscheidungen der westlichen Großmächte formuliert wurde, stellt sich zugleich als theoriepolitischer Anschluß an Michel Foucaults Überlegungen zur Macht und den Formen des Regierens dar. Foucault hatte Sicherheit als eine zentrale Machttechnik charakterisiert, die insbesondere unter Bedingungen des Neoliberalismus zum Tragen komme und die bis dahin gängigen Techniken des Gesetzes und der Disziplinen ergänzen, wenn nicht gar ablösen würde.[2]

Auch in seinem aktuellen und lange erwarteten Buch „Homo sacer“ schließt Agamben an Foucault an.[3] Im letzten Kapitel von „Sexualität und Wahrheit 1“ hatte dieser sich mit der Form der Politik beschäftigt, die die in der Antike praktizierte Unterscheidung von privatem und öffentlichem Bereich tendenziell aufhebt und die Einbeziehung des natürlichen, körperlichen Lebens der einzelnen in die Kalküle der Macht betreibt. Diese Politik, deren Aufkommen Foucault mit dem „klassischen Zeitalter“ (17.Jhd.) ansetzt, nennt er Biopolitik. Agamben versucht nun einerseits, die Genese der Biopolitik nachzuzeichnen und macht sie dabei nicht nur als modernes Phänomen, sondern als abendländisch schlechthin aus. Andererseits geht es ihm darum, Zeitdiagnose zu betreiben. Dabei vertritt er die These, daß heute jede Politik Biopolitik ist.
Staatliche Biopolitik sei eben, und so verknüpft Agamben die beiden Ebenen, keine moderne Errungenschaft, sondern bringe nur das „geheime Band“ wieder ans Licht, das seit je die Macht und das nackte (unpolitische, private, einzelne) Leben verbunden hätte. Auf die zentrale Frage politischer Soziologie, an welchem Punkt die „freiwillige Knechtschaft“ (de la Boétie) der/ des einzelnen mit der objektiven Macht kommuniziert, antwortet Agamben: beim Ausnahmezustand des politisierten nackten Lebens. Spezifisch modern ist nicht diese Ausnahme an sich, sondern daß sie „überall zur Regel wird“. Diese neue Regelmäßigkeit gilt es laut Agamben zu verstehen, um überhaupt eine emanzipatorische Perspektive verfolgen bzw. einnehmen zu können. Denn wie schon einige Theoretiker der Kritischen Theorie oder eben Foucault beschrieben haben, gilt es der Tatsache Rechnung zu tragen, daß mit dem Prozeß der Disziplinierung, mit dem die Staatsmacht den Menschen zu ihrem Objekt erhebt, der Prozeß einhergeht, in dem sich der Mensch selbst als Subjekt der politischen Macht präsentiert.

Die Ausnahme als Paradigma der Politik
Laut Agamben gründet jede staatliche Politik auf zwei Ausnahmen: Einerseits ist bereits jedes Konzept von Souveränität eine Ausnahmebeziehung, die den Souverän als konstituierte Gewalt außerhalb und als konstituierende Gewalt innerhalb der Rechtsordnung verortet. Moderner Ausdruck dieser immer schon paradoxen Situation ist beispielsweise die rechtliche Immunität von Staatsoberhäuptern oder ParlamentarierInnen. Spiegelbild des Souveräns ist andererseits der oder die Rechtlose, von der Politik als nichts anderes als das „nackte Leben“ angesprochen und damit als solches geschaffen. Prototypen derer, die das nackte Leben verkörpern, sind für Agamben Flüchtlinge. Das nackte Leben ist auch das heilige Leben, das nicht geopfert und dennoch ungestraft getötet werden darf, und jede Gesellschaft schafft sich ihre homines sacri (heilige Menschen), in Form von AsylbewerberInnen zum Beispiel. Die Tatsache, daß noch niemand für die Tötung eines bei einer Abschiebung aus der EU umgekommenen Flüchtlings wegen Mordes zur Rechenschaft gezogen wurde, verleiht selbst dieser These eine gewisse zeitdiagnostische Plausibilität.
Die Ausnahme als Paradigma der Politik auszumachen, hat weitreichende Konsequenzen für die Rechtsphilosophie, aber auch für die politische Theorie: Denn die Ausnahme ist die Situation, in der zwischen Anwendung des Rechts und dem Rechtsbruch nicht mehr unterschieden werden kann. Die krasseste Variante dieser Situation findet im Konzentrationslager statt oder auch im Alltag der großen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts. Es ist das Leben unter einem Gesetz, „in dem die unschuldigste Geste und die kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben können“. Indem Agamben diese Ausnahme als charakteristisch für staatliche Politik überhaupt ausmacht, legt er zum einen den gemeinsamen Ursprung von Totalitarismus und Demokratie frei. Denn auch am Beginn der modernen Demokratien steht der ambivalnte Zugriff auf den menschlichen Körper, der sowohl als Träger der Unterwerfung unter den Souverän als auch als Vehikel der individuellen Freiheit fungiert. Zum anderen behauptet Agamben damit eine historische Kontinuität zwischen KZ und Freizeitpark: Die Ausnahme, behauptet er wie vor ihm schon Walter Benjamin, ist heute zur Regel geworden.[4]

Das Lager und die Menschenrechte
Agamben selbst zeigt, wie mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zwischen Bürger und dem nicht an Nationalstaaten gebundenem nackten Leben unterschieden wird. Schon und gerade der formulierte Universalanspruch, alle Menschen miteinzubeziehen, enthält fundamentale Ausgrenzungen – Frauen, Schwarze, Nicht-Bürger waren nicht mitgemeint. Trotz dieser geschichtlichen Konkretisierung, behauptet er, anders als Foucault, daß jede abendländische Politik Biopolitik ist. Was Foucault also noch historisch herleitet und was im Anschluß an Marx mit der Entwicklung des Kapitalismus einhergehend gesehen werden muß, verabsolutiert Agamben für die gesamte Geschichte des Abendlandes. Spätestens an diesem Punkt geraten ihm die Ebenen durcheinander: Was rechtsphilosophisch seit der Antike bestand hat, muß noch lange nicht realgeschichtlich umgesetzt worden sein. Und was metaphorisch plausibel ist, läßt sich nicht ohne unzulässige Verallgemeinerung als soziologische Zeitdiagnose ausgeben: Agamben beschreibt das (Konzentrations-) Lager als „die verborgene Matrix der Politik“. Das Lager ist der Ort, „an dem sich der höchste Grad der conditio inhumana verwirklicht hat“, in dem die „Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat“. Diese Matrix ist laut Agamben heute allgegenwärtig und sollte auch so erkannt werden, zum Beispiel in den rechtsfreien Zonen für AsylbewerberInnen auf europäischen Flughäfen oder in US-amerikanischen Vorstädten.
Zwar legt jede Gesellschaft in umkämpften Prozessen fest, welches ihre homines sacrisind. Eine fragliche Induktion ist es aber, wenn Agamben daraus herleitet, das nackte Leben sei „nicht mehr an einem besonderen Ort oder einer definierten Kategorie eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes Lebewesens“. Denn während einerseits in „totalitären“ Systemen alle mehr oder weniger betroffen sind, trifft es unter formaldemokratischen Bedingungen immer nur einige Wenige – z.B. AsylbewerberInnen, Lesben, Schwule, Arme, Juden/ Jüdinnen, Marginalisierte überhaupt – und einige wenig. Und andererseits findet der gesellschaftliche Ausschluß eben doch nicht unabhängig vom Ort statt, also mehr und eher im Banlieu als in der metropolitanen Werbeagentur.

Gegen Biopolitik
Agambens Insistieren auf der Erkenntnis, das alle Politik Bioplitik ist, daß das nackte Leben zur fundamentalen Referenz geworden ist, ist aber dennoch nicht gänzlich unplausibel. Verständlich sei weder der Nationalsozialismus, noch der heutige Rassismus der Exkommunisten in Osteuropa oder die Wiedergeburt des Faschismus in ganz Europa, wenn nicht ein zentraler Zug der Biopolitik zur Kenntnis genommen würde: Das Ineinsgehen von Polizei und Politik, bei dem „die Sorge um das Leben (...) mit dem Kampf gegen den Feind zusammen(fällt)“. 
Es gibt also doch eine Spezifik moderner Biopolitik. Diese besteht in der programmatisch-politischen Umsetzung der Verknüpfung von biologischen Gegebenheiten und unmittelbarer Politik. In der „dynamischen Identität von Leben und Politik“ liegt demnach das Fundament des Totalitarismus dieses Jahrhunderts. Denn sowohl in neokonservativen als auch in neoliberalen Programmen und Politiken ist aktuell und zentral, was Agamben mit einem Satz des Münsteraner Nazi-Arztes Otmar von Verschuer zitiert: Daß Politik als „die Gestaltung des Lebens der Völker“ verstanden wird.
Wenn Staat so den Zugriff auf die Bevölkerung als Volk organisiert und garantiert, dann hätte Staatskritik heute die Aufgabe, den Staat nicht als wesenhaften Klotz anzugreifen, sondern – in Anlehnung an Foucault – gouvernementale Praktiken zu analysieren, d.h. wie Menschen geführt werden und wie sie sich (auf)führen. Eine emanzipatorische, anti-nationale Politik, die, wie Agamben schreibt, „im wesentlichen noch zu erfinden bleibt“, hätte dann in erster Linie ein Gegenmodell: Biopolitik.

Jens Kastner

Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002.

 

 


[1] Agamben, Giorgio: Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.2001.

[2] Den verschiedenen Machttechniken widmen sich seit einigen wenigen Jahren die „gouvernementality studies“, damit gearbeitet wird in Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/ M. 2000 (Suhrkamp).

[3] Zur Rezeptionsgeschichte und als inhaltliche Einführung vgl. Khurana, Thomas: Rotation. Leben und sterben lassen. Giorgio Agambens Buch „Homo sacer“ und seine Rezeption, in: Texte zur Kunst, Heft 45, März 2002, S.122-127.

[4] Daß ein womöglich innerster Zusammenhang zwischen „Totalitarismus“ und „Demokratie“ besteht, ist den aufrechten DemokratInnen nach wie vor ein unerträglicher Gedanke: Ulrike Herrmann unterschlägt in ihrer Besprechung von Agambens Buch einfach das Paradox der Souveränität und hält Agamben wegen jener These für „gefährlich“. Interessant auch die Bebilderung ihres Artikels: zu sehen sind Kopf und Hände einer offensichtlich vergnügten Frau, die vermutlich in einem Karussell o.ä. sitzt, darunter steht: „Selbst ein Vergnügungspark hat Ähnlichkeit mit einem KZ, meint Giorgio Agamben“. Wo schon bei Agamben das Wort Vergnügungspark nicht vorkommt, kann es hier also jede/r sehen, daß das kein KZ ist und was für ein Quatschkopf Agamben ist, „Agamben ist ein Verschwörungstheoretiker der Philosophie“, meint Herrmann. Herrmann, Ulrike: Provokant gefährlich. Der Philosoph Giorgio Agamben will die Konzentrationslager zu einer notwendigen Folge der Menschenrechte erklären – und scheitert, in: die tageszeitung, 30.04./ 01.05.2002, S.14.

 


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