in: ak – analyse & kritik, Nr. 489, Hamburg, 19.11.2004, S. 28.

Autonomie im (Wind-)Schatten des Linkspopulismus?
Der Zapatismus vor der mexikanischen Präsidentschaftswahl 2006


Mit einem achtteiligen Kommuniqué meldete sich der Sprecher der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN), Subcomandante Marcos, Ende August aus monatelangem Schweigen und den südwestmexikanischen Bergen zurück. Die mit „Ein Video lesen“ betitelte, gewohnt essayistische Erklärung nimmt einerseits Stellung zum aktuellen politischen Geschehen in Mexiko. Andererseits resümiert sie die Erfahrungen eines Jahres neu gelebter Autonomie, die mit der Umgestaltung der zapatistisch kontrollierten Verwaltungsbezirke im August 2003 ihren Ausgang nahmen.
Von größerem Interesse und vor allem weiter gehende Auswirkungen ankündigend, schien allerdings ein anderes, ebenfalls von der linken Tageszeitung LA JORNADA in voller Länge abgedrucktes Dokument. Verfasst und am 29.August vor einer halben Millionen Menschen in Mexiko-Stadt vorgetragen hatte es Andrés Manuel López Obrador (AMLO), gegenwärtig Bürgermeister der Metropole und möglicher Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Zu der Großkundgebung war es gekommen, weil die politische Rechte darauf drängt, dem Sozialdemokraten die Immunität abzuerkennen, um ihn im Zusammenhang mit einem Korruptionsskandal vor Gericht stellen zu können. Der bedrohte Politiker nutzte die Sympathiebekundung zu seinen Gunsten dazu, ein „alternatives nationales Projekt“ in Form eines 20-Punkte-Programms vorzustellen. Explizit als anti-neoliberales Programm formuliert, fordert der Linkspopulist darin einen neuen sozialen Pakt und einen „wahren Wechsel“ in Mexiko. Von MenschenrechtsbeobachterInnen bis zu WirtschaftsvertreterInnen sind sich nach vier Jahren Amtszeit viele darin einig, dass der amtierende Präsident von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN), Vicente Fox Quesada, diese Veränderung nicht gebracht hat. Als Demokratisierungshoffnung war der konservative Manager nach 71 Jahren Herrschaft der Institutionell Revolutionären Partei (PRI) nicht nur von ausländischen BeobachterInnen gehandelt worden.

Hatten soziale Bewegungen wie vor allem die zapatistische einen nicht eben geringen Einfluss auf das Auseinanderbrechen des PRI-Systems, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Politik unter veränderten Bedingungen neu. Welche Rolle können soziale Bewegungen wie die zapatistische für einen sozialen und politischen Wandel spielen, wenn der Gegner nicht ein autoritär-korruptes oder konservativ-unternehmerisches Regierungsprojekt mit jeweils neoliberalem Programm ist? Gräbt das „alternative nationale Projekt“ eines beliebten Politikers mit linken Prinzipien der emanzipatorischen Kraft sozialer Bewegungen das Wasser ab? Oder kann er für BasisaktivistInnen nicht vielmehr nützlich sein und als irgendetwas zwischen Schutz und Sprachrohr fungieren?

Noch ist AMLO nicht der offizielle Kandidat für die Wahl 2006 und zudem stehen bislang nur seine Worte über die Nation einer zehnjährigen Praxis der Zapatistas gegenüber, die diese Nation verändert hat. Aber das Projekt López Obradors – die jetzige Wirkung seiner Worte sowie zukünftige Effekte seiner Politik – wird auch Auswirkungen auf zapatistische Strategien haben. Und nicht zuletzt die positive Resonanz, die AMLO gegenwärtig erfährt und die es durchaus mit der den Zapatistas zu ihren populärsten Zeiten zu Teil gewordenen aufnehmen kann, macht eine Auseinandersetzung mit seinen Vorschlägen lohnenswert. Obwohl sowohl seine ehemalige PRI-Mitgliedschaft als auch seine guten Beziehungen zu Carlos Slim, einem der reichsten Unternehmer Mexikos, allgemein bekannt sind, besteht an seiner Integrität offenbar in weiten Kreisen kein Zweifel. Geschickt bezieht er sich zu Beginn seiner Rede auf die linken Helden der – alles andere als durchweg linksradikalen – mexikanischen Revolution, lobt Pancho Villas „Verwegenheit“ und Emiliano Zapatas Treue gegenüber den von ihm vertretenen Bauern. Zum Besten der mexikanischen Geschichte zählt er auch die „Kraft sozialer, gewerkschaftlicher und studentischer Bewegungen“. Zusammen mit der ausgesprochenen Ablehnung, das Militär zur „Lösung sozialer Probleme“ einzusetzen, unterscheidet sich dieses Programm allein innenpolitisch von allen Politiken vorheriger mexikanischer Präsidenten.
Was ihn zum geradezu klassischen Linkspopulisten macht, ist zudem sein auf einen eigenen, nationalen Weg setzendes Wirtschaftsprogramm. Dabei greift er ebenfalls einen Bewegungsdiskurs auf und plädiert dafür, die Globalisierung zu nutzen, anstatt sie zu erleiden. Deutlich spricht er sich gegen die Privatisierung des Energiesektors (Öl und Elektrizität) aus – (auch) in Mexiko ein immer wieder forciertes Vorhaben der Neoliberalen. Auch mit seinem Plädoyer für „gegenseitigen Respekt und Zusammenarbeit“ knüpft er an die USA-kritische Haltung vieler Linkspopulisten an, ohne allerdings einen wirklich antiimperialistischen Kurs einzuschlagen. Eine Vereinbarung mit dem Nachbarn im Norden, die den Einsatz von Gummigeschossen gegen MigrantInnen legalisiert, wie sie die Regierung Fox kürzlich unterzeichnet hat, würde es mit AMLO wohl nicht geben. Auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen taucht das Thema Migration in der Rede auf – ungefähr 400.000 MexikanerInnen wandern jährlich in die USA aus. Die proklamierte Unterstutzung der durch das nordamerikanische Freihandelabkommen (NAFTA) zwischen Mexiko, den USA und Kanada geschwächten Landwirtschaft zur Verhinderung der Migration folgt dabei demselben Motto wie die Politik gegenüber den USA im allgemeinen: “Die beste Außenpolitik ist die Innenpolitik”.
Der sechste Punkt im Programm des Bürgermeisters sieht die Umsetzung der 1996 zwischen der Guerilla EZLN und der damaligen PRI-Regierung ausgehandelten Abkommen von San Andrés vor. Das Recht auf Autonomie für die Indígenas, so AMLO, sei weder eine Gefahr für die Souveränität noch für die nationale Einheit, „weder Segregation noch Reservation oder Separatismus“, sondern sie sei der Respekt gegenüber ihren Formen der Organisation „im Rahmen des Staates“.

An der Frage nach der Autonomie lässt sich vielleicht am besten verdeutlichen, was gleichermaßen für die anderen Aspekte gilt, in denen die linkspopulistische und zapatistische Politikinhalte sich zu überschneiden scheinen (Bezug auf den linken Flügel der mexikanischen Revolution, auf emanzipatorische Kämpfe und eine „andere Globalisierung“ gegen den Neoliberalismus). Sie ist ein umkämpftes Feld, dass mit unterschiedlich radikalen Positionen besetzt wird.
Während Lopéz Obrador die Anerkennung der Autonomie als nationale „Schuld gegenüber den Indígenas“ abhandelt, haben pro-zapatistische AutorInnen immer wieder die weiter gehende Bedeutung des zapatistischen Autonomieverständnisses sowie der real gelebten autonomen zapatistischen Landkreise betont. Dabei geht es eben nicht nur um ein „Recht auf Identität“ oder das freie Ausleben von „Sitten und Gebräuchen“. So beschreibt beispielsweise Jaime Leroux in der linken Zeitschrift LA GUILLOTINA den Kampf um Autonomie als einen „gegen die Konzentration der Prozesse von Machtproduktion und Normenerschaffung“, für eine Dezentralisierung öffentlicher Entscheidungen. Während es Leroux um die jurististischen Konsequenzen des zapatistischen Autonomiemodells geht, hebt Gilberto López y Rivas in LA JORNADA die ganz praktischen Erfolge der seit einem Jahr tätigen „Räte der Guten Regierung“ auf umwelt- und sicherheitspolitischer Ebene hervor. Aber auch für López y Rivas beinhaltet Autonomie im zapatistischen Sinne mehr als indianische Selbstverwaltung. Vielmehr sei sie eine „erfolgreiche Praxis der Konstruktion und Bestärkung des autonomen Subjekts“ und damit von grundsätzlich ethischer Bedeutung. Beide – hier nur als aktuelle Beispiele dieser verbreiteten Position heraus gegriffenen – Autoren sprechen allerdings auch von der explizit nationalen Politikrelevanz zapatistischer Autonomie: Die zapatistischen Entwürfe hätten nicht nur Terrain gewonnen in der Zivilgesellschaft, sondern auch an die Notwendigkeit erinnert, „neue Wege zu finden für eine Transformation unserer nationalen Realität“ (López y Rivas). Diese Wege bereits eröffnet zu haben, hin zu einer „demokratischen Redefinition der Nation und des mexikanischen Staates“ hält Leroux den Zapatistas zu Gute. Und auch Subcomandante Marcos geht es im aktuellen Kommuniqué angesichts der neoliberalen Konterrevolution gleich um die „Neugründung der Nation“.

Der zapatistische Bezug auf die Nation war gerade auch als Strategie gegen die Einschränkung ihres Autonomie-Projektes auf ein regionales oder ethnisch-indigenes in Anschlag gebracht worden. Unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, beispielsweise repräsentiert durch einen linken Präsidenten, droht aber gerade diese strategische Bezugnahme, den Zapatismus zu einer Kommune-Bewegung zu verkleinern. Denn einerseits ist es von je her eine linkspopulistische Spezialität, die nationale Karte zu spielen und sich – in Abgrenzung zu korrupten Konservativen – als die „besseren VertreterInnen der Nation“ zu präsentieren. Was die materiellen und selbst die personellen Ressourcen dazu betrifft, scheint AMLO gegenüber den Zapatistas durchaus im Vorteil. Andererseits verliert auch die zapatistische Einschluss-Forderung „Kein Mexiko mehr ohne uns!“ an Mobilisierungskraft, wenn die Regierungspartei nicht mehr die von Klerikalen, Grossgrundbesitzern und Unternehmern ist wie momentan, sondern ihre Wurzeln selbst zum Teil in sozialen, pro-indigenen Bewegungen hat, wie die PRD. Es gilt also aus zapatistischer Sicht, das (zunächst diskursive) politische Feld nicht den LinkspopulistInnen zu überlassen. Denn die über die aktiven Gemeinden und Landkreise hinaus gehende Relevanz des Autonomie-Projektes ist schwerer zu behaupten, wenn auch das linkspopulistische Regierungsprojekt eines der nationalen Erneuerung vor dem Panorama der gleichen Ahnengalerie ist.

Um Autonomie nicht auf „kulturelle Rechte im Rahmen der Nation“ reduzieren zu lassen, wird sie sich zum einen an der Frage de Eigentums zuspitzen müssen. Hier wird sich u.a. auch zeigen, was die Worte AMLOs wert sind, steht doch die komplette Umsetzung der Verträge von San Andrés – und damit die Anerkennung kollektiven Eigentums – den Interessen derjenigen entgegen, die im Süden des Landes im Rahmen des Plan Puebla Panama (PPP) verschiedene infrastrukturelle und industrielle Großprojekte durchführen wollen. Und das ist neben den Unternehmerverbänden auch der Staat. Als wessen Schutz oder Sprachrohr sich wer dann herausstellt, wird sich also noch zeigen.
Zum anderen ließe sich die zapatistische Autonomie durchaus als transnationales Projekt konzipieren. Mit ihrer Ausrichtung gegen den neoliberalen Kapitalismus und den grossen „intergalaktisch“ genannten Treffen verschiedener sozialer AktivistInnen 1996 und 1997 hat die zapatistische Bewegung von Beginn an Anschluss gesucht an antineoliberale Bewegungen in aller Welt. Und sie hat diese Strömungen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg selbst forciert und beflügelt. Um nicht von linken Etatismen wie dem AMLOs absorbiert zu werden, ließe sich an diese Ausrichtung anknüpfen. Der Rahmen, in dem die campesin@s vor Ort in Chiapas ihre Unabhängigkeit organisieren, müsste dazu nicht von der mexikanischen Nationalflagge und –hymne gesteckt werden, wie es gegenwärtig noch der Fall ist, sondern vom Bezug auf emanzipatorische Kämpfe in Geschichte und Gegenwart jenseits der mexikanischen Staatsgrenzen.

Jens Kastner


Quellen:
* Leroux, Jaime: La autonomía: un derecho de todos. Lecciones jurídicas de la experiencia zapatista, in: La Guillotina, México D.F., Nr.52, S.38-42.
* López Obrador, Andrés Manuel: Proyecto de nación, in: La Jornada, México D.F., 30.08.2004, S.5ff.
* López y Rivas, Gilberto: Las juntas de buen gobierno y el cambio democrático, in: La Jornada, México D.F., 27.08.2004, S.20.
* Subcomandante Marcos: Leer un video. Primera parte: Un islote, in: La Jornada, México D.F.,20.08.2004, S.9ff. Die weiteren sieben Teile erschienen in den darauf folgenden Tagen.

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